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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
im Sinne des Privatrechts, sondern völkerrechtliche Gebietsüber-
tragung. Der Vertrag, den China mit dem Deutschen Reich am
6. März 1898 über die Abtretung der Kiao-Tschau-Bucht ge-
schlossen hat, ist völkerrechtlicher Natur. China hat die Aus-
übung der Hoheitsrechte an das Deutsche Reich abgetreten. Dass
die Form eines auf 99 Jahre geschlossenen Pachtvertrages gewählt
worden ist, um die Empfindlichkeit des einen Kontrahenten und
die Begehrlichkeit andrer Mächte zu schonen, ist völkerrechtlich
durchaus gleichgültig (oben § 10 IV 3). Das sogenannte Testa-
ment des Königs der Belgier vom 2. August 1896, durch welches
er als souveräner Herrscher des Kongostaates alle seine Rechte an
diesem Staat auf Belgien überträgt, ist einseitiger Staatsakt eines
souveränen Staates, der durch die entsprechende Annahme von
seiten Belgiens zum völkerrechtlichen Vertrag zwischen beiden
Staaten wird; von allen Rechtssätzen des Privatrechts, die sich
auf "Testamente" beziehen, findet kein einziger hier Anwendung.

II.

Eine systematische Einteilung der einzelnen völkerrechtlichen
Rechtsverhältnisse ist schon deshalb ohne Wert, weil die rechtbildende
Kraft des Willens der Staaten nicht, wie die des Einzelnen im Privat-
recht, an bestimmte, von der Rechtsordnung vorgezeichnete typische
Gestaltungen gebunden ist. Soweit auf dem Gebiet des völkerrecht-
lichen Vertrages solche typische Formen ausgebildet sind, so dass er-
gänzende Rechtssätze die Lücken auszufüllen vermögen, die der aus-
gesprochene oder erkennbare Wille der Vertragschliessenden gelassen
hat, wird unten in den §§ 20 bis 23 auf sie einzugehen sein.

Nur auf drei bereits besprochene Einteilungen sei an dieser
Stelle wiederholt aufmerksam gemacht.

1. Man unterscheidet Rechte und Pflichten, die sich unmittel-
bar als völkerrechtliche "Grundrechte" aus dem Grundgedanken
des Völkerrechts, also aus dem Nebeneinanderbestehen gleich-
berechtigter Staaten ergeben, von denjenigen Rechten und Pflichten,
die erst aus besonderen, sei es ausdrücklichen, sei es stillschweigen-
den Vereinbarungen entstehen, die daher als "konventionelles
Völkerrecht"
bezeichnet werden können. Von jenen ist bereits

II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
im Sinne des Privatrechts, sondern völkerrechtliche Gebietsüber-
tragung. Der Vertrag, den China mit dem Deutschen Reich am
6. März 1898 über die Abtretung der Kiao-Tschau-Bucht ge-
schlossen hat, ist völkerrechtlicher Natur. China hat die Aus-
übung der Hoheitsrechte an das Deutsche Reich abgetreten. Daſs
die Form eines auf 99 Jahre geschlossenen Pachtvertrages gewählt
worden ist, um die Empfindlichkeit des einen Kontrahenten und
die Begehrlichkeit andrer Mächte zu schonen, ist völkerrechtlich
durchaus gleichgültig (oben § 10 IV 3). Das sogenannte Testa-
ment des Königs der Belgier vom 2. August 1896, durch welches
er als souveräner Herrscher des Kongostaates alle seine Rechte an
diesem Staat auf Belgien überträgt, ist einseitiger Staatsakt eines
souveränen Staates, der durch die entsprechende Annahme von
seiten Belgiens zum völkerrechtlichen Vertrag zwischen beiden
Staaten wird; von allen Rechtssätzen des Privatrechts, die sich
auf „Testamente“ beziehen, findet kein einziger hier Anwendung.

II.

Eine systematische Einteilung der einzelnen völkerrechtlichen
Rechtsverhältnisse ist schon deshalb ohne Wert, weil die rechtbildende
Kraft des Willens der Staaten nicht, wie die des Einzelnen im Privat-
recht, an bestimmte, von der Rechtsordnung vorgezeichnete typische
Gestaltungen gebunden ist. Soweit auf dem Gebiet des völkerrecht-
lichen Vertrages solche typische Formen ausgebildet sind, so daſs er-
gänzende Rechtssätze die Lücken auszufüllen vermögen, die der aus-
gesprochene oder erkennbare Wille der Vertragschlieſsenden gelassen
hat, wird unten in den §§ 20 bis 23 auf sie einzugehen sein.

Nur auf drei bereits besprochene Einteilungen sei an dieser
Stelle wiederholt aufmerksam gemacht.

1. Man unterscheidet Rechte und Pflichten, die sich unmittel-
bar als völkerrechtliche „Grundrechte“ aus dem Grundgedanken
des Völkerrechts, also aus dem Nebeneinanderbestehen gleich-
berechtigter Staaten ergeben, von denjenigen Rechten und Pflichten,
die erst aus besonderen, sei es ausdrücklichen, sei es stillschweigen-
den Vereinbarungen entstehen, die daher als „konventionelles
Völkerrecht“
bezeichnet werden können. Von jenen ist bereits

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[106/0128] II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen. im Sinne des Privatrechts, sondern völkerrechtliche Gebietsüber- tragung. Der Vertrag, den China mit dem Deutschen Reich am 6. März 1898 über die Abtretung der Kiao-Tschau-Bucht ge- schlossen hat, ist völkerrechtlicher Natur. China hat die Aus- übung der Hoheitsrechte an das Deutsche Reich abgetreten. Daſs die Form eines auf 99 Jahre geschlossenen Pachtvertrages gewählt worden ist, um die Empfindlichkeit des einen Kontrahenten und die Begehrlichkeit andrer Mächte zu schonen, ist völkerrechtlich durchaus gleichgültig (oben § 10 IV 3). Das sogenannte Testa- ment des Königs der Belgier vom 2. August 1896, durch welches er als souveräner Herrscher des Kongostaates alle seine Rechte an diesem Staat auf Belgien überträgt, ist einseitiger Staatsakt eines souveränen Staates, der durch die entsprechende Annahme von seiten Belgiens zum völkerrechtlichen Vertrag zwischen beiden Staaten wird; von allen Rechtssätzen des Privatrechts, die sich auf „Testamente“ beziehen, findet kein einziger hier Anwendung. II. Eine systematische Einteilung der einzelnen völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse ist schon deshalb ohne Wert, weil die rechtbildende Kraft des Willens der Staaten nicht, wie die des Einzelnen im Privat- recht, an bestimmte, von der Rechtsordnung vorgezeichnete typische Gestaltungen gebunden ist. Soweit auf dem Gebiet des völkerrecht- lichen Vertrages solche typische Formen ausgebildet sind, so daſs er- gänzende Rechtssätze die Lücken auszufüllen vermögen, die der aus- gesprochene oder erkennbare Wille der Vertragschlieſsenden gelassen hat, wird unten in den §§ 20 bis 23 auf sie einzugehen sein. Nur auf drei bereits besprochene Einteilungen sei an dieser Stelle wiederholt aufmerksam gemacht. 1. Man unterscheidet Rechte und Pflichten, die sich unmittel- bar als völkerrechtliche „Grundrechte“ aus dem Grundgedanken des Völkerrechts, also aus dem Nebeneinanderbestehen gleich- berechtigter Staaten ergeben, von denjenigen Rechten und Pflichten, die erst aus besonderen, sei es ausdrücklichen, sei es stillschweigen- den Vereinbarungen entstehen, die daher als „konventionelles Völkerrecht“ bezeichnet werden können. Von jenen ist bereits

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/128>, abgerufen am 25.04.2024.