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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
gelangt ist. Mit der Angliederung von Elsass-Lothringen an das
Deutsche Reich war mithin der französisch-schweizerische Vertrag
über das internationale Privatrecht vom 15. Juni 1869 für jene
Gebiete ausser Kraft getreten. Das gilt auch von den Garantie-
verträgen. Hat ein Staat oder haben mehrere einem andern Staat
die Integrität seines Gebietes garantiert, so erstreckt sich die
Garantie auch auf die von diesem Staate neuerworbenen Gebiete.
Will der garantierende Staat diesen seine Verpflichtung erweiternden
Erfolg nicht eintreten lassen, so muss er gegen die Neuerwerbung
Einspruch erheben. Umgekehrt bleibt die Garantie auch für das
verkleinerte Gebiet bestehen, während der Staat, der ein Stück
des garantierten Staates erwirbt, in die Rechtsverhältnisse des
garantierten Staates nicht eintritt. Auch hier kann bezüglich der
allgemeinen Staatsschulden des verkleinerten Staates ein nicht auf
besonderer Vereinbarung beruhender Rechtssatz nicht anerkannt
werden (sehr bestritten). Die Übernahme eines verhältnismässigen
Anteils durch den vergrösserten Staat beruht auf dessen freier Ent-
schliessung.

Eine Ausnahme besteht nur für die auf einem bestimmten Gebiet
lokalisierten Berechtigungen und Verpflichtungen
(oben § 8 II 3 S. 44);
diese gehen bei derivativem Erwerb auf den Neuerwerber über.

Beispiele bieten: Die Verpflichtungen des verkleinerten Staates,
in dem abgetretenen Gebiet die öffentlichen Strassen in gutem Zu-
stand zu halten, die dieses Gebiet durchströmenden Flüsse einzu-
dämmen; ferner Verpflichtungen des abtretenden Staates in Bezug
auf die mit dem Gebiet abgetretenen Eisenbahnen. Dasselbe gilt
von den hypothezierten Schulden (dettes hypothequees), d. h. den-
jenigen, die im ausschliesslichen Interesse des abgetretenen Gebietes
aufgenommen sind, sowie von den Grundschulden (dettes hypo-
thecaires), d. h. denjenigen, für welche unbewegliches, in dem ab-
getretenen Gebiet gelegenes, Staatsgut verpfändet ist.

IV.

Ein durch Losreissung vom Mutterland neugebildeter Staat wird
durch die von jenem geschlossenen Verträge weder berechtigt noch ver-
pflichtet.


II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
gelangt ist. Mit der Angliederung von Elsaſs-Lothringen an das
Deutsche Reich war mithin der französisch-schweizerische Vertrag
über das internationale Privatrecht vom 15. Juni 1869 für jene
Gebiete auſser Kraft getreten. Das gilt auch von den Garantie-
verträgen. Hat ein Staat oder haben mehrere einem andern Staat
die Integrität seines Gebietes garantiert, so erstreckt sich die
Garantie auch auf die von diesem Staate neuerworbenen Gebiete.
Will der garantierende Staat diesen seine Verpflichtung erweiternden
Erfolg nicht eintreten lassen, so muſs er gegen die Neuerwerbung
Einspruch erheben. Umgekehrt bleibt die Garantie auch für das
verkleinerte Gebiet bestehen, während der Staat, der ein Stück
des garantierten Staates erwirbt, in die Rechtsverhältnisse des
garantierten Staates nicht eintritt. Auch hier kann bezüglich der
allgemeinen Staatsschulden des verkleinerten Staates ein nicht auf
besonderer Vereinbarung beruhender Rechtssatz nicht anerkannt
werden (sehr bestritten). Die Übernahme eines verhältnismäſsigen
Anteils durch den vergröſserten Staat beruht auf dessen freier Ent-
schlieſsung.

Eine Ausnahme besteht nur für die auf einem bestimmten Gebiet
lokalisierten Berechtigungen und Verpflichtungen
(oben § 8 II 3 S. 44);
diese gehen bei derivativem Erwerb auf den Neuerwerber über.

Beispiele bieten: Die Verpflichtungen des verkleinerten Staates,
in dem abgetretenen Gebiet die öffentlichen Straſsen in gutem Zu-
stand zu halten, die dieses Gebiet durchströmenden Flüsse einzu-
dämmen; ferner Verpflichtungen des abtretenden Staates in Bezug
auf die mit dem Gebiet abgetretenen Eisenbahnen. Dasselbe gilt
von den hypothezierten Schulden (dettes hypothéquées), d. h. den-
jenigen, die im ausschlieſslichen Interesse des abgetretenen Gebietes
aufgenommen sind, sowie von den Grundschulden (dettes hypo-
thécaires), d. h. denjenigen, für welche unbewegliches, in dem ab-
getretenen Gebiet gelegenes, Staatsgut verpfändet ist.

IV.

Ein durch Losreiſsung vom Mutterland neugebildeter Staat wird
durch die von jenem geschlossenen Verträge weder berechtigt noch ver-
pflichtet.


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[124/0146] II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen. gelangt ist. Mit der Angliederung von Elsaſs-Lothringen an das Deutsche Reich war mithin der französisch-schweizerische Vertrag über das internationale Privatrecht vom 15. Juni 1869 für jene Gebiete auſser Kraft getreten. Das gilt auch von den Garantie- verträgen. Hat ein Staat oder haben mehrere einem andern Staat die Integrität seines Gebietes garantiert, so erstreckt sich die Garantie auch auf die von diesem Staate neuerworbenen Gebiete. Will der garantierende Staat diesen seine Verpflichtung erweiternden Erfolg nicht eintreten lassen, so muſs er gegen die Neuerwerbung Einspruch erheben. Umgekehrt bleibt die Garantie auch für das verkleinerte Gebiet bestehen, während der Staat, der ein Stück des garantierten Staates erwirbt, in die Rechtsverhältnisse des garantierten Staates nicht eintritt. Auch hier kann bezüglich der allgemeinen Staatsschulden des verkleinerten Staates ein nicht auf besonderer Vereinbarung beruhender Rechtssatz nicht anerkannt werden (sehr bestritten). Die Übernahme eines verhältnismäſsigen Anteils durch den vergröſserten Staat beruht auf dessen freier Ent- schlieſsung. Eine Ausnahme besteht nur für die auf einem bestimmten Gebiet lokalisierten Berechtigungen und Verpflichtungen (oben § 8 II 3 S. 44); diese gehen bei derivativem Erwerb auf den Neuerwerber über. Beispiele bieten: Die Verpflichtungen des verkleinerten Staates, in dem abgetretenen Gebiet die öffentlichen Straſsen in gutem Zu- stand zu halten, die dieses Gebiet durchströmenden Flüsse einzu- dämmen; ferner Verpflichtungen des abtretenden Staates in Bezug auf die mit dem Gebiet abgetretenen Eisenbahnen. Dasselbe gilt von den hypothezierten Schulden (dettes hypothéquées), d. h. den- jenigen, die im ausschlieſslichen Interesse des abgetretenen Gebietes aufgenommen sind, sowie von den Grundschulden (dettes hypo- thécaires), d. h. denjenigen, für welche unbewegliches, in dem ab- getretenen Gebiet gelegenes, Staatsgut verpfändet ist. IV. Ein durch Losreiſsung vom Mutterland neugebildeter Staat wird durch die von jenem geschlossenen Verträge weder berechtigt noch ver- pflichtet.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/146>, abgerufen am 19.04.2024.