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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 24. Das völkerrechtliche Delikt.
Staates Gefahr, so darf er sie durch Verletzung der berechtigten
Interessen eines dritten Staates schützen. Doch hat er in diesem
Falle Ersatz zu leisten. Auch diejenigen Schriftsteller, welche die
Anwendbarkeit des Notstandbegriffes im Völkerrecht leugnen, ge-
währen dem bedrohten Staat das "Recht auf Selbsterhaltung" (oben
§ 7 I S. 35). Damit ist derselbe Begriff durch einen andern Aus-
druck bezeichnet. Auf dem Begriff des Notstandes beruht eine ganze
Reihe von anerkannten Rechtssätzen. So die Anerkennung einer
die Rechtsregeln der Kriegsführung schmälernden oder vernichten-
den Kriegsraison (necessite de guerre). Auf ihm beruht
insbesondere auch das (durch diese Grundlage zugleich umgrenzte)
Recht der Staaten, Handelsschiffe unter neutraler Flagge oder
andere Gegenstände, die im Eigentum von Staatsfremden stehen,
für öffentliche Zwecke mit Beschlag zu belegen (das sogenannte
Embargo); oder fremde Schiffe im Interesse der Wahrung des
Geheimnisses militärischer Operationen im Hafen zurückzuhalten
(arret de prince); oder endlich zu Zwecken der Kriegsführung,
gegen Entschädigung zu verwenden (jus angariae). So haben
die Deutschen im Krieg gegen Frankreich bei Duclair englische
Schiffe versenkt, um die Seine für die französischen Kriegsfahr-
zeuge zu sperren. Auf dem Notstand beruht endlich auch das
Recht der Seeschiffe zur relache forcee, d. h. zum Aufenthalt
in einem, ihnen sonst verschlossenen Hafen, wenn sie durch See-
not dazu gezwungen sind (unten § 25 III und IV).

IV.

Die Rechtsfolgen des völkerrechtlichen Deliktes sind vielge-
staltiger als die in dem nationalen Recht aufgestellten Rechtsfolgen
des privatrechtlichen Deliktes oder des strafrechtlichen Verbrechens.

1. Der schuldige Staat hat zunächst den früheren Zustand
wiederherzustellen und eine Entschädigung in Geld zu leisten.

Diese kann sich naturgemäss nicht auf vermögensrechtliche
Interessen beschränken, da bei allen gegen den Staat selbst ge-
richteten Verletzungen staatliche Hoheitsrechte in Frage stehen.

2. Über die Entschädigung hinaus ist in allen schwereren Fällen
Genugthuung zu leisten, die in einer Huldigung vor der verletzten Staats-
gewalt besteht (Ausdruck des Bedauerns, Salutieren der Flagge u. s. w.).


v. Liszt, Völkerrecht. 9

§ 24. Das völkerrechtliche Delikt.
Staates Gefahr, so darf er sie durch Verletzung der berechtigten
Interessen eines dritten Staates schützen. Doch hat er in diesem
Falle Ersatz zu leisten. Auch diejenigen Schriftsteller, welche die
Anwendbarkeit des Notstandbegriffes im Völkerrecht leugnen, ge-
währen dem bedrohten Staat das „Recht auf Selbsterhaltung“ (oben
§ 7 I S. 35). Damit ist derselbe Begriff durch einen andern Aus-
druck bezeichnet. Auf dem Begriff des Notstandes beruht eine ganze
Reihe von anerkannten Rechtssätzen. So die Anerkennung einer
die Rechtsregeln der Kriegsführung schmälernden oder vernichten-
den Kriegsraison (nécessité de guerre). Auf ihm beruht
insbesondere auch das (durch diese Grundlage zugleich umgrenzte)
Recht der Staaten, Handelsschiffe unter neutraler Flagge oder
andere Gegenstände, die im Eigentum von Staatsfremden stehen,
für öffentliche Zwecke mit Beschlag zu belegen (das sogenannte
Embargo); oder fremde Schiffe im Interesse der Wahrung des
Geheimnisses militärischer Operationen im Hafen zurückzuhalten
(arrêt de prince); oder endlich zu Zwecken der Kriegsführung,
gegen Entschädigung zu verwenden (jus angariae). So haben
die Deutschen im Krieg gegen Frankreich bei Duclair englische
Schiffe versenkt, um die Seine für die französischen Kriegsfahr-
zeuge zu sperren. Auf dem Notstand beruht endlich auch das
Recht der Seeschiffe zur relâche forcée, d. h. zum Aufenthalt
in einem, ihnen sonst verschlossenen Hafen, wenn sie durch See-
not dazu gezwungen sind (unten § 25 III und IV).

IV.

Die Rechtsfolgen des völkerrechtlichen Deliktes sind vielge-
staltiger als die in dem nationalen Recht aufgestellten Rechtsfolgen
des privatrechtlichen Deliktes oder des strafrechtlichen Verbrechens.

1. Der schuldige Staat hat zunächst den früheren Zustand
wiederherzustellen und eine Entschädigung in Geld zu leisten.

Diese kann sich naturgemäſs nicht auf vermögensrechtliche
Interessen beschränken, da bei allen gegen den Staat selbst ge-
richteten Verletzungen staatliche Hoheitsrechte in Frage stehen.

2. Über die Entschädigung hinaus ist in allen schwereren Fällen
Genugthuung zu leisten, die in einer Huldigung vor der verletzten Staats-
gewalt besteht (Ausdruck des Bedauerns, Salutieren der Flagge u. s. w.).


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[129/0151] § 24. Das völkerrechtliche Delikt. Staates Gefahr, so darf er sie durch Verletzung der berechtigten Interessen eines dritten Staates schützen. Doch hat er in diesem Falle Ersatz zu leisten. Auch diejenigen Schriftsteller, welche die Anwendbarkeit des Notstandbegriffes im Völkerrecht leugnen, ge- währen dem bedrohten Staat das „Recht auf Selbsterhaltung“ (oben § 7 I S. 35). Damit ist derselbe Begriff durch einen andern Aus- druck bezeichnet. Auf dem Begriff des Notstandes beruht eine ganze Reihe von anerkannten Rechtssätzen. So die Anerkennung einer die Rechtsregeln der Kriegsführung schmälernden oder vernichten- den Kriegsraison (nécessité de guerre). Auf ihm beruht insbesondere auch das (durch diese Grundlage zugleich umgrenzte) Recht der Staaten, Handelsschiffe unter neutraler Flagge oder andere Gegenstände, die im Eigentum von Staatsfremden stehen, für öffentliche Zwecke mit Beschlag zu belegen (das sogenannte Embargo); oder fremde Schiffe im Interesse der Wahrung des Geheimnisses militärischer Operationen im Hafen zurückzuhalten (arrêt de prince); oder endlich zu Zwecken der Kriegsführung, gegen Entschädigung zu verwenden (jus angariae). So haben die Deutschen im Krieg gegen Frankreich bei Duclair englische Schiffe versenkt, um die Seine für die französischen Kriegsfahr- zeuge zu sperren. Auf dem Notstand beruht endlich auch das Recht der Seeschiffe zur relâche forcée, d. h. zum Aufenthalt in einem, ihnen sonst verschlossenen Hafen, wenn sie durch See- not dazu gezwungen sind (unten § 25 III und IV). IV. Die Rechtsfolgen des völkerrechtlichen Deliktes sind vielge- staltiger als die in dem nationalen Recht aufgestellten Rechtsfolgen des privatrechtlichen Deliktes oder des strafrechtlichen Verbrechens. 1. Der schuldige Staat hat zunächst den früheren Zustand wiederherzustellen und eine Entschädigung in Geld zu leisten. Diese kann sich naturgemäſs nicht auf vermögensrechtliche Interessen beschränken, da bei allen gegen den Staat selbst ge- richteten Verletzungen staatliche Hoheitsrechte in Frage stehen. 2. Über die Entschädigung hinaus ist in allen schwereren Fällen Genugthuung zu leisten, die in einer Huldigung vor der verletzten Staats- gewalt besteht (Ausdruck des Bedauerns, Salutieren der Flagge u. s. w.). v. Liszt, Völkerrecht. 9

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/151>, abgerufen am 18.04.2024.