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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.

Sie kann sich auch auf die friedlichen Stadtteile erstrecken,
soll aber Denkmäler der Kunst, wissenschaftliche Sammlungen u. s. w.
schonen, soweit diese nicht vom Gegner zu Stützpunkten seiner Ver-
teidigung gemacht werden.

3. Die friedlichen Einwohner der belagerten Städte, insbesondere
die Kranken, die Weiber und Kinder haben keinen Rechtsanspruch auf
Gewährung ungestörten Abzugs.

4. Die diplomatischen Vertreter neutraler Mächte, die sich in der
umlagerten Stadt befinden, haben keinen Anspruch auf ungehemmten
Verkehr mit ihrem Absendestaat.

Die Frage wurde während der Belagerung von Paris im
deutsch-französischen Kriege lebhaft erörtert.

IV. Die kriegerische Besetzung fremden Staatsgebietes.

Während durch die Eroberung fremdes Staatsgebiet dem Sieger
erworben wird, tritt infolge der Besetzung von feindlichem Staats-
gebiet durch die vorrückende Kriegsmacht nur thatsächlich und vorüber-
gehend, soweit die effektive Macht der besetzenden Truppen reicht, die
Staatsgewalt des Okkupierenden an die Stelle der rechtmässigen Staats-
gewalt. Durch die Okkupation wird also ein besonderes Rechtsverhältnis
zwischen der besetzenden Staatsgewalt und den Bewohnern des be-
setzten Gebietes erzeugt.

1. Die besetzende Staatsgewalt hat das Recht wie die Pflicht,
an Stelle der rechtmässigen Staatsgewalt Ruhe und Ordnung aufrecht
zu erhalten.

Gesetzgebung, Rechtspflege, Verwaltung werden, soweit es
möglich ist, wie bisher fortgeführt. Doch hat die besetzende Staats-
gewalt das Recht, alle Massregeln zu treffen, die erforderlich sind,
um die besetzenden Truppen und die Zwecke der Kriegführung zu
sichern. Die Bewohner des besetzten Gebietes schulden der be-
setzenden Staatsgewalt Gehorsam, nicht aber die Treue, die den
Unterthanenverband kennzeichnet. Die Gemeinde, auf deren Boden
eine die Truppen gefährdende oder verletzende rechtswidrige Hand-
lung vorgenommen worden ist, kann für den Schuldigen verant-
wortlich gemacht werden; sie kann insbesondere angehalten wer-
den, Strafgelder zu zahlen, Geiseln zu stellen (die ebenso wie
Kriegsgefangene zu behandeln sind), und andere Sicherheit zu leisten.


IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.

Sie kann sich auch auf die friedlichen Stadtteile erstrecken,
soll aber Denkmäler der Kunst, wissenschaftliche Sammlungen u. s. w.
schonen, soweit diese nicht vom Gegner zu Stützpunkten seiner Ver-
teidigung gemacht werden.

3. Die friedlichen Einwohner der belagerten Städte, insbesondere
die Kranken, die Weiber und Kinder haben keinen Rechtsanspruch auf
Gewährung ungestörten Abzugs.

4. Die diplomatischen Vertreter neutraler Mächte, die sich in der
umlagerten Stadt befinden, haben keinen Anspruch auf ungehemmten
Verkehr mit ihrem Absendestaat.

Die Frage wurde während der Belagerung von Paris im
deutsch-französischen Kriege lebhaft erörtert.

IV. Die kriegerische Besetzung fremden Staatsgebietes.

Während durch die Eroberung fremdes Staatsgebiet dem Sieger
erworben wird, tritt infolge der Besetzung von feindlichem Staats-
gebiet durch die vorrückende Kriegsmacht nur thatsächlich und vorüber-
gehend, soweit die effektive Macht der besetzenden Truppen reicht, die
Staatsgewalt des Okkupierenden an die Stelle der rechtmäſsigen Staats-
gewalt. Durch die Okkupation wird also ein besonderes Rechtsverhältnis
zwischen der besetzenden Staatsgewalt und den Bewohnern des be-
setzten Gebietes erzeugt.

1. Die besetzende Staatsgewalt hat das Recht wie die Pflicht,
an Stelle der rechtmäſsigen Staatsgewalt Ruhe und Ordnung aufrecht
zu erhalten.

Gesetzgebung, Rechtspflege, Verwaltung werden, soweit es
möglich ist, wie bisher fortgeführt. Doch hat die besetzende Staats-
gewalt das Recht, alle Maſsregeln zu treffen, die erforderlich sind,
um die besetzenden Truppen und die Zwecke der Kriegführung zu
sichern. Die Bewohner des besetzten Gebietes schulden der be-
setzenden Staatsgewalt Gehorsam, nicht aber die Treue, die den
Unterthanenverband kennzeichnet. Die Gemeinde, auf deren Boden
eine die Truppen gefährdende oder verletzende rechtswidrige Hand-
lung vorgenommen worden ist, kann für den Schuldigen verant-
wortlich gemacht werden; sie kann insbesondere angehalten wer-
den, Strafgelder zu zahlen, Geiseln zu stellen (die ebenso wie
Kriegsgefangene zu behandeln sind), und andere Sicherheit zu leisten.


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[228/0250] IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung. Sie kann sich auch auf die friedlichen Stadtteile erstrecken, soll aber Denkmäler der Kunst, wissenschaftliche Sammlungen u. s. w. schonen, soweit diese nicht vom Gegner zu Stützpunkten seiner Ver- teidigung gemacht werden. 3. Die friedlichen Einwohner der belagerten Städte, insbesondere die Kranken, die Weiber und Kinder haben keinen Rechtsanspruch auf Gewährung ungestörten Abzugs. 4. Die diplomatischen Vertreter neutraler Mächte, die sich in der umlagerten Stadt befinden, haben keinen Anspruch auf ungehemmten Verkehr mit ihrem Absendestaat. Die Frage wurde während der Belagerung von Paris im deutsch-französischen Kriege lebhaft erörtert. IV. Die kriegerische Besetzung fremden Staatsgebietes. Während durch die Eroberung fremdes Staatsgebiet dem Sieger erworben wird, tritt infolge der Besetzung von feindlichem Staats- gebiet durch die vorrückende Kriegsmacht nur thatsächlich und vorüber- gehend, soweit die effektive Macht der besetzenden Truppen reicht, die Staatsgewalt des Okkupierenden an die Stelle der rechtmäſsigen Staats- gewalt. Durch die Okkupation wird also ein besonderes Rechtsverhältnis zwischen der besetzenden Staatsgewalt und den Bewohnern des be- setzten Gebietes erzeugt. 1. Die besetzende Staatsgewalt hat das Recht wie die Pflicht, an Stelle der rechtmäſsigen Staatsgewalt Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Gesetzgebung, Rechtspflege, Verwaltung werden, soweit es möglich ist, wie bisher fortgeführt. Doch hat die besetzende Staats- gewalt das Recht, alle Maſsregeln zu treffen, die erforderlich sind, um die besetzenden Truppen und die Zwecke der Kriegführung zu sichern. Die Bewohner des besetzten Gebietes schulden der be- setzenden Staatsgewalt Gehorsam, nicht aber die Treue, die den Unterthanenverband kennzeichnet. Die Gemeinde, auf deren Boden eine die Truppen gefährdende oder verletzende rechtswidrige Hand- lung vorgenommen worden ist, kann für den Schuldigen verant- wortlich gemacht werden; sie kann insbesondere angehalten wer- den, Strafgelder zu zahlen, Geiseln zu stellen (die ebenso wie Kriegsgefangene zu behandeln sind), und andere Sicherheit zu leisten.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/250>, abgerufen am 25.04.2024.