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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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Einleitung.
haben "Freundschafts-Verträge" mit den Kulturstaaten geschlossen.
Unaufhaltsam schreitet diese Ausbreitung des Völkerrechts fort.
Der Weltpostverein schliesst fast alle Staaten der sämtlichen Erd-
teile zu einer riesigen Verwaltungsgemeinschaft zusammen.

3. Im Verkehr mit den halbcivilisierten Staaten ausserhalb der
vertragsmässig geregelten Beziehungen und im gesamten Verkehr mit
den nichtcivilisierten Staaten ist die Rechtsgemeinschaft der Kultur-
staaten nur durch ihre thatsächliche Macht geschützt und nur durch
die Grundsätze des Christentums und der Menschlichkeit gebunden.

II.

Die Normen des Völkerrechts sind wirkliche Rechtsregeln;
sie binden die civilisierten Staaten, sie sind positives Recht.

Die Rechtsnatur des Völkerrechts wird bestritten von Lorimer,
Westlake, Lasson, Zorn
und andern; scharf betont von v. Jhe-
ring, Laband
und fast allen Völkerrechtsschriftstellern.

Vgl. gegen Zorn insbesondere Laband, Staatsrecht. 3. Aufl. II. 1.

Es kann und soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die
Normen des Völkerrechts unvollkommener sind als die des nationalen
Rechts. Auf den ersten Blick scheint sogar auf dem Gebiete des
Völkerrechts die über den einzelnen Staaten stehende gesetzgebende,
richtende, vollziehende Gewalt völlig zu fehlen. Aber die Recht-
sätze des Völkerrechts tragen dennoch das unverkennbare Wahr-
zeichen des Rechts: sie sind als verpflichtend gemeint von der
rechtsetzenden Gewalt und werden als verpflichtend anerkannt von
den das Recht Empfangenden. Bei zahlreichen Gelegenheiten haben
die Staaten die verpflichtende Kraft des "Völkerrechts" ausdrück-
lich und feierlich anerkannt; bei allen Streitigkeiten zwischen den
Mächten, selbst während des Krieges, berufen sich diese auf das
"Völkerrecht"; neu entstehende Staaten verpflichten sich selbst und
werden verpflichtet, die Sätze des "Völkerrechts" zu beachten; die
Konsuln erhalten durch Staatenverträge die Befugnis, Verletzungen
des "Völkerrechts" durch den Empfangsstaat zu rügen; den Schieds-
richtern wird aufgetragen, "nach Völkerrecht" die Entscheidung
zu fällen; die nationalen Gesetze enthalten (so in den "Delikten
gegen das Völkerrecht") seine Anerkennung, und die nationalen

Einleitung.
haben „Freundschafts-Verträge“ mit den Kulturstaaten geschlossen.
Unaufhaltsam schreitet diese Ausbreitung des Völkerrechts fort.
Der Weltpostverein schlieſst fast alle Staaten der sämtlichen Erd-
teile zu einer riesigen Verwaltungsgemeinschaft zusammen.

3. Im Verkehr mit den halbcivilisierten Staaten auſserhalb der
vertragsmäſsig geregelten Beziehungen und im gesamten Verkehr mit
den nichtcivilisierten Staaten ist die Rechtsgemeinschaft der Kultur-
staaten nur durch ihre thatsächliche Macht geschützt und nur durch
die Grundsätze des Christentums und der Menschlichkeit gebunden.

II.

Die Normen des Völkerrechts sind wirkliche Rechtsregeln;
sie binden die civilisierten Staaten, sie sind positives Recht.

Die Rechtsnatur des Völkerrechts wird bestritten von Lorimer,
Westlake, Lasson, Zorn
und andern; scharf betont von v. Jhe-
ring, Laband
und fast allen Völkerrechtsschriftstellern.

Vgl. gegen Zorn insbesondere Laband, Staatsrecht. 3. Aufl. II. 1.

Es kann und soll nicht in Abrede gestellt werden, daſs die
Normen des Völkerrechts unvollkommener sind als die des nationalen
Rechts. Auf den ersten Blick scheint sogar auf dem Gebiete des
Völkerrechts die über den einzelnen Staaten stehende gesetzgebende,
richtende, vollziehende Gewalt völlig zu fehlen. Aber die Recht-
sätze des Völkerrechts tragen dennoch das unverkennbare Wahr-
zeichen des Rechts: sie sind als verpflichtend gemeint von der
rechtsetzenden Gewalt und werden als verpflichtend anerkannt von
den das Recht Empfangenden. Bei zahlreichen Gelegenheiten haben
die Staaten die verpflichtende Kraft des „Völkerrechts“ ausdrück-
lich und feierlich anerkannt; bei allen Streitigkeiten zwischen den
Mächten, selbst während des Krieges, berufen sich diese auf das
„Völkerrecht“; neu entstehende Staaten verpflichten sich selbst und
werden verpflichtet, die Sätze des „Völkerrechts“ zu beachten; die
Konsuln erhalten durch Staatenverträge die Befugnis, Verletzungen
des „Völkerrechts“ durch den Empfangsstaat zu rügen; den Schieds-
richtern wird aufgetragen, „nach Völkerrecht“ die Entscheidung
zu fällen; die nationalen Gesetze enthalten (so in den „Delikten
gegen das Völkerrecht“) seine Anerkennung, und die nationalen

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[4/0026] Einleitung. haben „Freundschafts-Verträge“ mit den Kulturstaaten geschlossen. Unaufhaltsam schreitet diese Ausbreitung des Völkerrechts fort. Der Weltpostverein schlieſst fast alle Staaten der sämtlichen Erd- teile zu einer riesigen Verwaltungsgemeinschaft zusammen. 3. Im Verkehr mit den halbcivilisierten Staaten auſserhalb der vertragsmäſsig geregelten Beziehungen und im gesamten Verkehr mit den nichtcivilisierten Staaten ist die Rechtsgemeinschaft der Kultur- staaten nur durch ihre thatsächliche Macht geschützt und nur durch die Grundsätze des Christentums und der Menschlichkeit gebunden. II. Die Normen des Völkerrechts sind wirkliche Rechtsregeln; sie binden die civilisierten Staaten, sie sind positives Recht. Die Rechtsnatur des Völkerrechts wird bestritten von Lorimer, Westlake, Lasson, Zorn und andern; scharf betont von v. Jhe- ring, Laband und fast allen Völkerrechtsschriftstellern. Vgl. gegen Zorn insbesondere Laband, Staatsrecht. 3. Aufl. II. 1. Es kann und soll nicht in Abrede gestellt werden, daſs die Normen des Völkerrechts unvollkommener sind als die des nationalen Rechts. Auf den ersten Blick scheint sogar auf dem Gebiete des Völkerrechts die über den einzelnen Staaten stehende gesetzgebende, richtende, vollziehende Gewalt völlig zu fehlen. Aber die Recht- sätze des Völkerrechts tragen dennoch das unverkennbare Wahr- zeichen des Rechts: sie sind als verpflichtend gemeint von der rechtsetzenden Gewalt und werden als verpflichtend anerkannt von den das Recht Empfangenden. Bei zahlreichen Gelegenheiten haben die Staaten die verpflichtende Kraft des „Völkerrechts“ ausdrück- lich und feierlich anerkannt; bei allen Streitigkeiten zwischen den Mächten, selbst während des Krieges, berufen sich diese auf das „Völkerrecht“; neu entstehende Staaten verpflichten sich selbst und werden verpflichtet, die Sätze des „Völkerrechts“ zu beachten; die Konsuln erhalten durch Staatenverträge die Befugnis, Verletzungen des „Völkerrechts“ durch den Empfangsstaat zu rügen; den Schieds- richtern wird aufgetragen, „nach Völkerrecht“ die Entscheidung zu fällen; die nationalen Gesetze enthalten (so in den „Delikten gegen das Völkerrecht“) seine Anerkennung, und die nationalen

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/26>, abgerufen am 28.03.2024.