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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.

Ein Staat, der durch eine chinesische Mauer sich gegen alle
übrigen Staaten abschliessen wollte, tritt damit aus der Völker-
rechtsgemeinschaft aus. Ein Staat, der einem andern Staat allein
grundsätzlich das allen andern gewährte commercium versagt, be-
gründet damit für diesen einen casus belli. Durch diese grund-
sätzliche Verpflichtung wird die Berechtigung nicht berührt, im
einzelnen Falle den Abschluss eines Vertrags, den Empfang einer
Gesandtschaft zu verweigern. (Die Ansichten über diesen Punkt
gehen auseinander. Doch bedeutet auch die beliebte Aufstellung
eines "droit de passage oder usage inoffensif" nichts anderes als
die Anerkennung des hier vertretenen Satzes.)

IV.

Als Verletzung der Souveränität, mithin als völkerrecht-
liches Delikt
(unten § 24), erscheint auch jede Beleidigung des
fremden Staates, sei es in seinen völkerrechtlichen Vertretern und
Organen, sei es in seinen Hoheitszeichen.

Jeder Staat hat daher auch, insbesondere durch seine Straf-
gesetzgebung, dafür Sorge zu tragen, dass solche Verletzungen auf
seinem Gebiet sich nicht ereignen. Dagegen gehört die Erweisung
besonderer Ehren nicht mehr dem Völkerrecht, sondern der inter-
nationalen Höflichkeit an. Das gilt von dem gesamten Land- und
See-Zeremoniell, sowie insbesondere von den sogenannten "könig-
lichen Ehren" (Gesandte erster Klasse, Königskrone im Wappen,
Brudertitel).

Titeländerungen, die ein Staat für sich vornimmt, binden
andere Staaten nur, insoweit sie die Änderung ausdrücklich oder
stillschweigend anerkannt haben.

§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
I.

Die Souveränität schliesst begrifflich nicht nur (negativ) die
Unzulässigkeit jeder äussern Einwirkung, sondern auch (positiv) die
innere Unabhängigkeit in sich. Sie erscheint daher als völkerrecht-
lich anerkannte Herrschaft über das ganze Staatsgebiet und über die
auf dem Gebiet befindlichen Personen und Sachen.

Die Selbständigkeit der Staatsgewalt äussert sich allen übrigen
Staaten gegenüber als autonome Regelung der Gesetzgebung, der
Rechtspflege und der Verwaltung (Territorialprinzip).


I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.

Ein Staat, der durch eine chinesische Mauer sich gegen alle
übrigen Staaten abschlieſsen wollte, tritt damit aus der Völker-
rechtsgemeinschaft aus. Ein Staat, der einem andern Staat allein
grundsätzlich das allen andern gewährte commercium versagt, be-
gründet damit für diesen einen casus belli. Durch diese grund-
sätzliche Verpflichtung wird die Berechtigung nicht berührt, im
einzelnen Falle den Abschluſs eines Vertrags, den Empfang einer
Gesandtschaft zu verweigern. (Die Ansichten über diesen Punkt
gehen auseinander. Doch bedeutet auch die beliebte Aufstellung
eines „droit de passage oder usage inoffensif“ nichts anderes als
die Anerkennung des hier vertretenen Satzes.)

IV.

Als Verletzung der Souveränität, mithin als völkerrecht-
liches Delikt
(unten § 24), erscheint auch jede Beleidigung des
fremden Staates, sei es in seinen völkerrechtlichen Vertretern und
Organen, sei es in seinen Hoheitszeichen.

Jeder Staat hat daher auch, insbesondere durch seine Straf-
gesetzgebung, dafür Sorge zu tragen, daſs solche Verletzungen auf
seinem Gebiet sich nicht ereignen. Dagegen gehört die Erweisung
besonderer Ehren nicht mehr dem Völkerrecht, sondern der inter-
nationalen Höflichkeit an. Das gilt von dem gesamten Land- und
See-Zeremoniell, sowie insbesondere von den sogenannten „könig-
lichen Ehren“ (Gesandte erster Klasse, Königskrone im Wappen,
Brudertitel).

Titeländerungen, die ein Staat für sich vornimmt, binden
andere Staaten nur, insoweit sie die Änderung ausdrücklich oder
stillschweigend anerkannt haben.

§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
I.

Die Souveränität schlieſst begrifflich nicht nur (negativ) die
Unzulässigkeit jeder äuſsern Einwirkung, sondern auch (positiv) die
innere Unabhängigkeit in sich. Sie erscheint daher als völkerrecht-
lich anerkannte Herrschaft über das ganze Staatsgebiet und über die
auf dem Gebiet befindlichen Personen und Sachen.

Die Selbständigkeit der Staatsgewalt äuſsert sich allen übrigen
Staaten gegenüber als autonome Regelung der Gesetzgebung, der
Rechtspflege und der Verwaltung (Territorialprinzip).


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[40/0062] I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung. Ein Staat, der durch eine chinesische Mauer sich gegen alle übrigen Staaten abschlieſsen wollte, tritt damit aus der Völker- rechtsgemeinschaft aus. Ein Staat, der einem andern Staat allein grundsätzlich das allen andern gewährte commercium versagt, be- gründet damit für diesen einen casus belli. Durch diese grund- sätzliche Verpflichtung wird die Berechtigung nicht berührt, im einzelnen Falle den Abschluſs eines Vertrags, den Empfang einer Gesandtschaft zu verweigern. (Die Ansichten über diesen Punkt gehen auseinander. Doch bedeutet auch die beliebte Aufstellung eines „droit de passage oder usage inoffensif“ nichts anderes als die Anerkennung des hier vertretenen Satzes.) IV. Als Verletzung der Souveränität, mithin als völkerrecht- liches Delikt (unten § 24), erscheint auch jede Beleidigung des fremden Staates, sei es in seinen völkerrechtlichen Vertretern und Organen, sei es in seinen Hoheitszeichen. Jeder Staat hat daher auch, insbesondere durch seine Straf- gesetzgebung, dafür Sorge zu tragen, daſs solche Verletzungen auf seinem Gebiet sich nicht ereignen. Dagegen gehört die Erweisung besonderer Ehren nicht mehr dem Völkerrecht, sondern der inter- nationalen Höflichkeit an. Das gilt von dem gesamten Land- und See-Zeremoniell, sowie insbesondere von den sogenannten „könig- lichen Ehren“ (Gesandte erster Klasse, Königskrone im Wappen, Brudertitel). Titeländerungen, die ein Staat für sich vornimmt, binden andere Staaten nur, insoweit sie die Änderung ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt haben. § 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit. I. Die Souveränität schlieſst begrifflich nicht nur (negativ) die Unzulässigkeit jeder äuſsern Einwirkung, sondern auch (positiv) die innere Unabhängigkeit in sich. Sie erscheint daher als völkerrecht- lich anerkannte Herrschaft über das ganze Staatsgebiet und über die auf dem Gebiet befindlichen Personen und Sachen. Die Selbständigkeit der Staatsgewalt äuſsert sich allen übrigen Staaten gegenüber als autonome Regelung der Gesetzgebung, der Rechtspflege und der Verwaltung (Territorialprinzip).

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/62>, abgerufen am 24.04.2024.