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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 23. Der Einfluss von Gebietsveränderungen.

In diesem Falle kann eben von dem Untergange des bis-
herigen Rechtssubjektes nicht gesprochen werden. Doch steht den
neugegründeten Teilstaaten, wegen der in dem Rechtssubjekte
eingetretenen Änderung, das Recht zu, die von dem Einheits-
staat mit dritten Mächten, die der Spaltung nicht widersprochen
haben, geschlossenen Verträge zu kündigen.

Das Gesagte gilt auch, soweit nicht besondere Vereinbarungen
getroffen sind, von den Staatsschulden. Es kann insbesondere nicht
behauptet werden, dass der einverleibende Staat, soweit er es nicht
freiwillig thut, die Schulden des einverleibten Staates übernimmt.

Sehr bestritten. Für die gegenteilige Ansicht Ullmann 71.

II.

Tritt ein Staat unter die Schutzherrschaft eines andern Staates,
so sind alle Verträge des geschützten Staates als erloschen zu betrachten,
welche die uneingeschränkte Souveränität des Vertragschliessenden
voraussetzen.

Hierher gehören insbesondere alle Bündnisverträge, sowie die
politischen Verträge überhaupt. Die übrigen Verträge des ge-
schützten Staates bleiben bestehen; doch hat auch hier der er-
werbende Staat das Recht der Kündigung gegenüber denjenigen
Staaten, die der Erwerbung der Schutzherrschaft nicht wider-
sprochen haben. Die vom schützenden Staat geschlossenen Verträge
werden dagegen nicht auf das Gebiet des geschützten Staates aus-
gedehnt.

Vgl. Pic, R. G. III 613.

III.

Gebietsveränderungen, bei welchen der Bestand der beiden
Staaten erhalten bleibt, haben grundsätzlich keinen Einfluss auf die
bestehenden völkerrechtlichen Berechtigungen und Verpflichtungen. Die
von dem erwerbenden Staat geschlossenen Verträge erstrecken sich ohne
weiteres auch auf die neu erworbenen Gebiete; und die von dem ver-
kleinerten Staate geschlossenen Verträge bleiben trotz des Gebiets-
verlustes weiter bestehen.

Das ist das sogenannte Prinzip der "beweglichen Ver-
tragsgrenzen"
, das insbesondere auch in den neuern Handels-
verträgen des Deutschen Reichs zur ausdrücklichen Anerkennung

§ 23. Der Einfluſs von Gebietsveränderungen.

In diesem Falle kann eben von dem Untergange des bis-
herigen Rechtssubjektes nicht gesprochen werden. Doch steht den
neugegründeten Teilstaaten, wegen der in dem Rechtssubjekte
eingetretenen Änderung, das Recht zu, die von dem Einheits-
staat mit dritten Mächten, die der Spaltung nicht widersprochen
haben, geschlossenen Verträge zu kündigen.

Das Gesagte gilt auch, soweit nicht besondere Vereinbarungen
getroffen sind, von den Staatsschulden. Es kann insbesondere nicht
behauptet werden, daſs der einverleibende Staat, soweit er es nicht
freiwillig thut, die Schulden des einverleibten Staates übernimmt.

Sehr bestritten. Für die gegenteilige Ansicht Ullmann 71.

II.

Tritt ein Staat unter die Schutzherrschaft eines andern Staates,
so sind alle Verträge des geschützten Staates als erloschen zu betrachten,
welche die uneingeschränkte Souveränität des Vertragschlieſsenden
voraussetzen.

Hierher gehören insbesondere alle Bündnisverträge, sowie die
politischen Verträge überhaupt. Die übrigen Verträge des ge-
schützten Staates bleiben bestehen; doch hat auch hier der er-
werbende Staat das Recht der Kündigung gegenüber denjenigen
Staaten, die der Erwerbung der Schutzherrschaft nicht wider-
sprochen haben. Die vom schützenden Staat geschlossenen Verträge
werden dagegen nicht auf das Gebiet des geschützten Staates aus-
gedehnt.

Vgl. Pic, R. G. III 613.

III.

Gebietsveränderungen, bei welchen der Bestand der beiden
Staaten erhalten bleibt, haben grundsätzlich keinen Einfluſs auf die
bestehenden völkerrechtlichen Berechtigungen und Verpflichtungen. Die
von dem erwerbenden Staat geschlossenen Verträge erstrecken sich ohne
weiteres auch auf die neu erworbenen Gebiete; und die von dem ver-
kleinerten Staate geschlossenen Verträge bleiben trotz des Gebiets-
verlustes weiter bestehen.

Das ist das sogenannte Prinzip der „beweglichen Ver-
tragsgrenzen“
, das insbesondere auch in den neuern Handels-
verträgen des Deutschen Reichs zur ausdrücklichen Anerkennung

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[123/0145] § 23. Der Einfluſs von Gebietsveränderungen. In diesem Falle kann eben von dem Untergange des bis- herigen Rechtssubjektes nicht gesprochen werden. Doch steht den neugegründeten Teilstaaten, wegen der in dem Rechtssubjekte eingetretenen Änderung, das Recht zu, die von dem Einheits- staat mit dritten Mächten, die der Spaltung nicht widersprochen haben, geschlossenen Verträge zu kündigen. Das Gesagte gilt auch, soweit nicht besondere Vereinbarungen getroffen sind, von den Staatsschulden. Es kann insbesondere nicht behauptet werden, daſs der einverleibende Staat, soweit er es nicht freiwillig thut, die Schulden des einverleibten Staates übernimmt. Sehr bestritten. Für die gegenteilige Ansicht Ullmann 71. II. Tritt ein Staat unter die Schutzherrschaft eines andern Staates, so sind alle Verträge des geschützten Staates als erloschen zu betrachten, welche die uneingeschränkte Souveränität des Vertragschlieſsenden voraussetzen. Hierher gehören insbesondere alle Bündnisverträge, sowie die politischen Verträge überhaupt. Die übrigen Verträge des ge- schützten Staates bleiben bestehen; doch hat auch hier der er- werbende Staat das Recht der Kündigung gegenüber denjenigen Staaten, die der Erwerbung der Schutzherrschaft nicht wider- sprochen haben. Die vom schützenden Staat geschlossenen Verträge werden dagegen nicht auf das Gebiet des geschützten Staates aus- gedehnt. Vgl. Pic, R. G. III 613. III. Gebietsveränderungen, bei welchen der Bestand der beiden Staaten erhalten bleibt, haben grundsätzlich keinen Einfluſs auf die bestehenden völkerrechtlichen Berechtigungen und Verpflichtungen. Die von dem erwerbenden Staat geschlossenen Verträge erstrecken sich ohne weiteres auch auf die neu erworbenen Gebiete; und die von dem ver- kleinerten Staate geschlossenen Verträge bleiben trotz des Gebiets- verlustes weiter bestehen. Das ist das sogenannte Prinzip der „beweglichen Ver- tragsgrenzen“, das insbesondere auch in den neuern Handels- verträgen des Deutschen Reichs zur ausdrücklichen Anerkennung

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/145>, abgerufen am 28.03.2024.