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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.

3. Nicht kraft allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsregel, wohl
aber durch eine, im 19. Jahrhundert häufige, besondere Vereinbarung
der beteiligten Staaten (sogenannte Optionsklausel) wird den Ange-
hörigen des erworbenen Gebietsteils gestattet, binnen bestimmter Frist
bei der zuständigen Behörde zu erklären, dass sie ihre Zugehörigkeit
zu dem abtretenden Staat bewahren wollen, die sie durch die Abtretung
an sich verloren hätten. Diese Erklärung schliesst die Pflicht der Aus-
wanderung (nicht aber des Verkaufs von unbeweglichem Eigentum) in
sich. Die Erklärung des Vaters gilt auch für die unter väterlicher
Gewalt stehenden Kinder, die des Ehemannes auch für die Frau (option
collective).

Frankfurter Frieden von 1871 Artikel 2 Absatz 1: "Den aus
den abgetretenen Gebieten herstammenden, gegenwärtig in diesem
Gebiete wohnhaften Französischen Unterthanen, welche beabsichtigen,
die Französische Nationalität zu behalten, steht bis zum 1. Oktober
1872 und vermöge einer vorgängigen Erklärung an die zuständige
Behörde die Befugnis zu, ihren Wohnsitz nach Frankreich zu
verlegen und sich dort niederzulassen, ohne dass dieser Befugnis
durch die Gesetze über den Militärdienst Eintrag geschehen könnte,
in welchem Falle ihnen die Eigenschaft als Französische Bürger
erhalten bleiben wird. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit
Deutschland vereinigten Gebieten belegenen Grundbesitz zu be-
halten." Vgl. auch Artikel 1 der Zusatzkonvention vom 11. Dezember
1871 (R. G. Bl. 1872 S. 7).

III.

Okkupation ist die Begründung der Gebietshoheit (mithin der
Erwerb der Staatshoheit, des imperium) auf bisher staatslosem oder
von einem nichtcivilisierten Staate beherrschtem Gebiet.

1. Die Okkupation erfordert begrifflich thatsächliche Herrschaft
über das Gebiet (Prinzip der Effektivität) und sie reicht nur soweit
wie diese.

Es genügt mithin nicht die blosse Entdeckung oder die sym-
bolische Besitzergreifung (durch Hissen der Flagge u. s. w.). Die
Okkupation erfordert dagegen nicht wirtschaftliche Erschliessung
des Landes (agrarische Kolonisation). Für Erwerbungen an der
afrikanischen Küste hat die Kongoakte von 1885 in Artikel 34, 35
das in der Staatenübung längst anerkannte Prinzip der Effektivität

I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.

3. Nicht kraft allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsregel, wohl
aber durch eine, im 19. Jahrhundert häufige, besondere Vereinbarung
der beteiligten Staaten (sogenannte Optionsklausel) wird den Ange-
hörigen des erworbenen Gebietsteils gestattet, binnen bestimmter Frist
bei der zuständigen Behörde zu erklären, daſs sie ihre Zugehörigkeit
zu dem abtretenden Staat bewahren wollen, die sie durch die Abtretung
an sich verloren hätten. Diese Erklärung schlieſst die Pflicht der Aus-
wanderung (nicht aber des Verkaufs von unbeweglichem Eigentum) in
sich. Die Erklärung des Vaters gilt auch für die unter väterlicher
Gewalt stehenden Kinder, die des Ehemannes auch für die Frau (option
collective).

Frankfurter Frieden von 1871 Artikel 2 Absatz 1: „Den aus
den abgetretenen Gebieten herstammenden, gegenwärtig in diesem
Gebiete wohnhaften Französischen Unterthanen, welche beabsichtigen,
die Französische Nationalität zu behalten, steht bis zum 1. Oktober
1872 und vermöge einer vorgängigen Erklärung an die zuständige
Behörde die Befugnis zu, ihren Wohnsitz nach Frankreich zu
verlegen und sich dort niederzulassen, ohne daſs dieser Befugnis
durch die Gesetze über den Militärdienst Eintrag geschehen könnte,
in welchem Falle ihnen die Eigenschaft als Französische Bürger
erhalten bleiben wird. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit
Deutschland vereinigten Gebieten belegenen Grundbesitz zu be-
halten.“ Vgl. auch Artikel 1 der Zusatzkonvention vom 11. Dezember
1871 (R. G. Bl. 1872 S. 7).

III.

Okkupation ist die Begründung der Gebietshoheit (mithin der
Erwerb der Staatshoheit, des imperium) auf bisher staatslosem oder
von einem nichtcivilisierten Staate beherrschtem Gebiet.

1. Die Okkupation erfordert begrifflich thatsächliche Herrschaft
über das Gebiet (Prinzip der Effektivität) und sie reicht nur soweit
wie diese.

Es genügt mithin nicht die bloſse Entdeckung oder die sym-
bolische Besitzergreifung (durch Hissen der Flagge u. s. w.). Die
Okkupation erfordert dagegen nicht wirtschaftliche Erschlieſsung
des Landes (agrarische Kolonisation). Für Erwerbungen an der
afrikanischen Küste hat die Kongoakte von 1885 in Artikel 34, 35
das in der Staatenübung längst anerkannte Prinzip der Effektivität

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[58/0080] I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung. 3. Nicht kraft allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsregel, wohl aber durch eine, im 19. Jahrhundert häufige, besondere Vereinbarung der beteiligten Staaten (sogenannte Optionsklausel) wird den Ange- hörigen des erworbenen Gebietsteils gestattet, binnen bestimmter Frist bei der zuständigen Behörde zu erklären, daſs sie ihre Zugehörigkeit zu dem abtretenden Staat bewahren wollen, die sie durch die Abtretung an sich verloren hätten. Diese Erklärung schlieſst die Pflicht der Aus- wanderung (nicht aber des Verkaufs von unbeweglichem Eigentum) in sich. Die Erklärung des Vaters gilt auch für die unter väterlicher Gewalt stehenden Kinder, die des Ehemannes auch für die Frau (option collective). Frankfurter Frieden von 1871 Artikel 2 Absatz 1: „Den aus den abgetretenen Gebieten herstammenden, gegenwärtig in diesem Gebiete wohnhaften Französischen Unterthanen, welche beabsichtigen, die Französische Nationalität zu behalten, steht bis zum 1. Oktober 1872 und vermöge einer vorgängigen Erklärung an die zuständige Behörde die Befugnis zu, ihren Wohnsitz nach Frankreich zu verlegen und sich dort niederzulassen, ohne daſs dieser Befugnis durch die Gesetze über den Militärdienst Eintrag geschehen könnte, in welchem Falle ihnen die Eigenschaft als Französische Bürger erhalten bleiben wird. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit Deutschland vereinigten Gebieten belegenen Grundbesitz zu be- halten.“ Vgl. auch Artikel 1 der Zusatzkonvention vom 11. Dezember 1871 (R. G. Bl. 1872 S. 7). III. Okkupation ist die Begründung der Gebietshoheit (mithin der Erwerb der Staatshoheit, des imperium) auf bisher staatslosem oder von einem nichtcivilisierten Staate beherrschtem Gebiet. 1. Die Okkupation erfordert begrifflich thatsächliche Herrschaft über das Gebiet (Prinzip der Effektivität) und sie reicht nur soweit wie diese. Es genügt mithin nicht die bloſse Entdeckung oder die sym- bolische Besitzergreifung (durch Hissen der Flagge u. s. w.). Die Okkupation erfordert dagegen nicht wirtschaftliche Erschlieſsung des Landes (agrarische Kolonisation). Für Erwerbungen an der afrikanischen Küste hat die Kongoakte von 1885 in Artikel 34, 35 das in der Staatenübung längst anerkannte Prinzip der Effektivität

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/80>, abgerufen am 23.04.2024.