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Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die Fragen, Bitten, Beschwörungen und Thränen, nicht bloß ihres Geliebten, auch ihres Vaters, der von dem unbegreiflichen Verhalten nicht minder erschreckt, ebenfalls keinen Grund dafür anzugeben wußte. Das Fräulein gab fest und bestimmt den Entschluß zu erkennen, das Verhältniß als gelöst zu betrachten und den Bräutigam niemals mehr sehen zu wollen, und ein anderes Wort als die stete Wiederholung dieses gänzlich unerklärlichen Ausspruchs war dem Mädchen nicht abzugewinnen.

Gerade aber der Mangel einer faßbaren Ursache solchen Verhaltens, nachdem die beiderseitige große Liebe der Verlobten und ihre bisherige selige Eintracht keinem Zweifel unterworfen werden konnte, schnitt alle Vermuthungen und Gerüchte ab und rief die Annahme hervor, die Alles zu erklären schien: daß bei dem jungen, schönen Mädchen eine plötzliche Geistesstörung eingetreten wäre.

Nichts jedoch in dem ferneren Verhalten der Freiherrntochter schien für die schreckliche Annahme eine Bestätigung zu bieten, wenn man diese nicht in der außerordentlichen Liebe zur Einsamkeit finden wollte. Seit dem Tode ihres Vaters und dem letzten vergeblichen Annäherungsversuch des jungen Mannes verließ Frau von Börte, wie man sich längst gewöhnt hatte das Fräulein zu nennen, vielleicht zur Abkürzung des Wortes "Freifrau", im Sommer niemals ihre Behausung, sondern beschränkte ihre Spaziergänge auf den Schloßgarten, dessen Pflege sie mit der sorgsamsten

die Fragen, Bitten, Beschwörungen und Thränen, nicht bloß ihres Geliebten, auch ihres Vaters, der von dem unbegreiflichen Verhalten nicht minder erschreckt, ebenfalls keinen Grund dafür anzugeben wußte. Das Fräulein gab fest und bestimmt den Entschluß zu erkennen, das Verhältniß als gelöst zu betrachten und den Bräutigam niemals mehr sehen zu wollen, und ein anderes Wort als die stete Wiederholung dieses gänzlich unerklärlichen Ausspruchs war dem Mädchen nicht abzugewinnen.

Gerade aber der Mangel einer faßbaren Ursache solchen Verhaltens, nachdem die beiderseitige große Liebe der Verlobten und ihre bisherige selige Eintracht keinem Zweifel unterworfen werden konnte, schnitt alle Vermuthungen und Gerüchte ab und rief die Annahme hervor, die Alles zu erklären schien: daß bei dem jungen, schönen Mädchen eine plötzliche Geistesstörung eingetreten wäre.

Nichts jedoch in dem ferneren Verhalten der Freiherrntochter schien für die schreckliche Annahme eine Bestätigung zu bieten, wenn man diese nicht in der außerordentlichen Liebe zur Einsamkeit finden wollte. Seit dem Tode ihres Vaters und dem letzten vergeblichen Annäherungsversuch des jungen Mannes verließ Frau von Börte, wie man sich längst gewöhnt hatte das Fräulein zu nennen, vielleicht zur Abkürzung des Wortes „Freifrau“, im Sommer niemals ihre Behausung, sondern beschränkte ihre Spaziergänge auf den Schloßgarten, dessen Pflege sie mit der sorgsamsten

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[0020] die Fragen, Bitten, Beschwörungen und Thränen, nicht bloß ihres Geliebten, auch ihres Vaters, der von dem unbegreiflichen Verhalten nicht minder erschreckt, ebenfalls keinen Grund dafür anzugeben wußte. Das Fräulein gab fest und bestimmt den Entschluß zu erkennen, das Verhältniß als gelöst zu betrachten und den Bräutigam niemals mehr sehen zu wollen, und ein anderes Wort als die stete Wiederholung dieses gänzlich unerklärlichen Ausspruchs war dem Mädchen nicht abzugewinnen. Gerade aber der Mangel einer faßbaren Ursache solchen Verhaltens, nachdem die beiderseitige große Liebe der Verlobten und ihre bisherige selige Eintracht keinem Zweifel unterworfen werden konnte, schnitt alle Vermuthungen und Gerüchte ab und rief die Annahme hervor, die Alles zu erklären schien: daß bei dem jungen, schönen Mädchen eine plötzliche Geistesstörung eingetreten wäre. Nichts jedoch in dem ferneren Verhalten der Freiherrntochter schien für die schreckliche Annahme eine Bestätigung zu bieten, wenn man diese nicht in der außerordentlichen Liebe zur Einsamkeit finden wollte. Seit dem Tode ihres Vaters und dem letzten vergeblichen Annäherungsversuch des jungen Mannes verließ Frau von Börte, wie man sich längst gewöhnt hatte das Fräulein zu nennen, vielleicht zur Abkürzung des Wortes „Freifrau“, im Sommer niemals ihre Behausung, sondern beschränkte ihre Spaziergänge auf den Schloßgarten, dessen Pflege sie mit der sorgsamsten

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:30:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910/20>, abgerufen am 28.03.2024.