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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Fünfter Abschnitt.
Physiologie der Seelenorgane.

Entsprechend den unbedeutenden Hilfsmitteln, die uns zu Gebote
stehen für die Untersuchung der vom Hirn ausgehenden Wirkungen
und dem Mangel einer genauen chemischen und anatomischen Zerglie-
derung dieses Organs, neben dem meist nicht auf Beobachtung gerich-
teten Bestreben der Psychologen, lässt sich nur wenig Thatsächliches
über die Seelenerscheinungen mittheilen; besonders wenn man sich
vorsetzt, nicht zu einer Aufzählung der mannigfachen Erscheinungen
zu schreiten, sondern die denselben zu Grunde liegenden fundamen-
talen Hergänge zu ermitteln. -- In diesem letztern Sinne sind, wenn
auch noch sehr mangelhaft, nur die Empfindung, die willkürliche Er-
regung und der Schlaf angreifbar.

Organe der Empfindung.

1. Die Umstände, durch deren Zusammenwirken die Empfindung
entsteht, sind so gut wie unbekannt. Da dem gesunden wachen-
den Menschen nur dann Empfindungen zu Theil werden, wenn
seine Nerven in den erregten Zustand gerathen, so liegt es nahe,
die Erregung der Nerven und die Empfindung für gleichbedeutend
zu erklären. Eine solche Annahme wäre aber vollkommen feh-
lerhaft, einmal weil nicht ein jeder erregte Nerv innerhalb des
normalen Lebens Empfindung erzeugt, sondern nur eine ganz
beschränkte Zahl derselben und insbesondere die drei höhern Sin-
nesnerven, die grosse Wurzel des fünften und Abtheilungen des
neunten, zehnten und elften Hirnnerven und die hintern Wur-
zeln der Rückenmarksnerven. Aber auch diese Nerven erwecken
nur Empfindungen wenn ihre reellen oder virtuellen Fortsetzungen
ununterbrochen durch das Hirn bis in die Sehhügel und die mitt-
leren Lappen der grossen Hemisphären verlaufen. Alle diejenigen
der erwähnten Nervenröhren, die abwärts von den genannten Orten
eine Unterbrechung ihres Zusammenhangs erlitten haben, verlieren
nach den Erfahrungen am Krankenbette damit sogleich ihre empfin-
dungserzeugenden Fähigkeiten, selbst dann, wenn sie zum Zeichen

Fünfter Abschnitt.
Physiologie der Seelenorgane.

Entsprechend den unbedeutenden Hilfsmitteln, die uns zu Gebote
stehen für die Untersuchung der vom Hirn ausgehenden Wirkungen
und dem Mangel einer genauen chemischen und anatomischen Zerglie-
derung dieses Organs, neben dem meist nicht auf Beobachtung gerich-
teten Bestreben der Psychologen, lässt sich nur wenig Thatsächliches
über die Seelenerscheinungen mittheilen; besonders wenn man sich
vorsetzt, nicht zu einer Aufzählung der mannigfachen Erscheinungen
zu schreiten, sondern die denselben zu Grunde liegenden fundamen-
talen Hergänge zu ermitteln. — In diesem letztern Sinne sind, wenn
auch noch sehr mangelhaft, nur die Empfindung, die willkürliche Er-
regung und der Schlaf angreifbar.

Organe der Empfindung.

1. Die Umstände, durch deren Zusammenwirken die Empfindung
entsteht, sind so gut wie unbekannt. Da dem gesunden wachen-
den Menschen nur dann Empfindungen zu Theil werden, wenn
seine Nerven in den erregten Zustand gerathen, so liegt es nahe,
die Erregung der Nerven und die Empfindung für gleichbedeutend
zu erklären. Eine solche Annahme wäre aber vollkommen feh-
lerhaft, einmal weil nicht ein jeder erregte Nerv innerhalb des
normalen Lebens Empfindung erzeugt, sondern nur eine ganz
beschränkte Zahl derselben und insbesondere die drei höhern Sin-
nesnerven, die grosse Wurzel des fünften und Abtheilungen des
neunten, zehnten und elften Hirnnerven und die hintern Wur-
zeln der Rückenmarksnerven. Aber auch diese Nerven erwecken
nur Empfindungen wenn ihre reellen oder virtuellen Fortsetzungen
ununterbrochen durch das Hirn bis in die Sehhügel und die mitt-
leren Lappen der grossen Hemisphären verlaufen. Alle diejenigen
der erwähnten Nervenröhren, die abwärts von den genannten Orten
eine Unterbrechung ihres Zusammenhangs erlitten haben, verlieren
nach den Erfahrungen am Krankenbette damit sogleich ihre empfin-
dungserzeugenden Fähigkeiten, selbst dann, wenn sie zum Zeichen

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[440/0454] Fünfter Abschnitt. Physiologie der Seelenorgane. Entsprechend den unbedeutenden Hilfsmitteln, die uns zu Gebote stehen für die Untersuchung der vom Hirn ausgehenden Wirkungen und dem Mangel einer genauen chemischen und anatomischen Zerglie- derung dieses Organs, neben dem meist nicht auf Beobachtung gerich- teten Bestreben der Psychologen, lässt sich nur wenig Thatsächliches über die Seelenerscheinungen mittheilen; besonders wenn man sich vorsetzt, nicht zu einer Aufzählung der mannigfachen Erscheinungen zu schreiten, sondern die denselben zu Grunde liegenden fundamen- talen Hergänge zu ermitteln. — In diesem letztern Sinne sind, wenn auch noch sehr mangelhaft, nur die Empfindung, die willkürliche Er- regung und der Schlaf angreifbar. Organe der Empfindung. 1. Die Umstände, durch deren Zusammenwirken die Empfindung entsteht, sind so gut wie unbekannt. Da dem gesunden wachen- den Menschen nur dann Empfindungen zu Theil werden, wenn seine Nerven in den erregten Zustand gerathen, so liegt es nahe, die Erregung der Nerven und die Empfindung für gleichbedeutend zu erklären. Eine solche Annahme wäre aber vollkommen feh- lerhaft, einmal weil nicht ein jeder erregte Nerv innerhalb des normalen Lebens Empfindung erzeugt, sondern nur eine ganz beschränkte Zahl derselben und insbesondere die drei höhern Sin- nesnerven, die grosse Wurzel des fünften und Abtheilungen des neunten, zehnten und elften Hirnnerven und die hintern Wur- zeln der Rückenmarksnerven. Aber auch diese Nerven erwecken nur Empfindungen wenn ihre reellen oder virtuellen Fortsetzungen ununterbrochen durch das Hirn bis in die Sehhügel und die mitt- leren Lappen der grossen Hemisphären verlaufen. Alle diejenigen der erwähnten Nervenröhren, die abwärts von den genannten Orten eine Unterbrechung ihres Zusammenhangs erlitten haben, verlieren nach den Erfahrungen am Krankenbette damit sogleich ihre empfin- dungserzeugenden Fähigkeiten, selbst dann, wenn sie zum Zeichen

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/454>, abgerufen am 28.03.2024.