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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Willkürliche motorische Erregung.
Grunde wird er es auch verschmähen durch andere, leicht zu findende,
zum Theil plausible Unterstellungen, die Annahme zu bekämpfen,
welche die Hirnfunktionen ganz unnöthigerweise als ausserhalb der
Naturgrenzen stehend ansieht. Die Wissenschaft verschmäht die
Scheingefechte.

2. Der Willkürbewegung sind nur eine beschränkte Zahl von
Muskeln und Drüsennerven unterworfen und zwar in ganz verschie-
dener Weise.

a. Unbeschränkt der Willkür unterworfen sind, wie es scheint,
die inneren Augenmuskeln, die mimischen Gesichtsmuskeln, die der
Zunge, die Strecker und Beuger der Wirbelsäule und des Kopfes, das
Zwerchfell (?) und die Muskeln der Arme und Beine. Diese Muskeln
können in jeder beliebigen Reihenfolge, in jeglicher gleichzeitiger
Verbindung miteinander und zu jeder beliebigen Zeit gehemmt oder
bewegt werden.

b. Eine andere Zahl von Muskeln ist nur unter gewisser Combi-
nation mit andern der Willkür unterthan, z. B. die Iris nur mit den
Accommodationsmuskeln und den inneren und oberen Augenmuskeln;
ferner die beiden mm. recti bulbi externi nicht gleichzeitig, wenn die
Erregungsstärke einen gewissen Grad übersteigt; ferner der m. hyo-
thyreoideus nur beim Schlingen oder Tonangeben, der tensor tympani
beim Kauen, die constrictores pharyngis nur beim Schlingakt; gemein-
sam auf beiden Seiten nur die Muskeln des larynx, pharynx, des Gau-
mensegels und Perinäums.

c. Eine dritte Zahl endlich ist nur in gewissen (sogenannten
leidenschaftlichen) Zuständen der Willkür unterworfen. Hierher zählt
die Herzhemmung oder Beschleunigung bei Angst oder Spannung, die
Durchfälle nach Angst, die Erektion des Penis in dem Geschlechtstrieb,
die Thränenabsonderung beim Kummer, die Speichelabsonderung bei
Essbegier u. dgl.

Die unter den beiden letzten Buchstaben erwähnten Muskeln und Akte bedürf-
ten einer genauen Aussonderung. Hier wäre auch Rücksicht auf die Hirnzustände
zu nehmen, in welchen nur einzelne von den unbeschränkt der Willkür unterwor-
fene Bewegungsapparaten dem Willen vollkommen gehorchen, während andre vor-
übergehend ganz ausgeschlossen sind, wie beim Nachtwandlen, Alpdrücken u. s. w.

3. Niemals können alle der Willkür unterworfenen Muskelnerven
gleichzeitig durch dieselbe in Erregung versetzt werden; die Zahl der
möglicher Weise gleichzeitig erregbaren Nerven ist jedoch unbe-
kannt; Joh. Müller.

Zuerst scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass man niemals
weniger Nervenröhren gleichzeitig zu erregen im Stande ist, als
soviel sich zu einem geschlossenen Muskel begeben, da Niemand, so
weit bekannt, nur einzelne Bündel eines solchen isolirt bewegen kann.
-- Ferner scheint es, dass sich bei den bedingt willkürlichen Bewe-
gungen jedesmal die Anregung über eine grössere Zahl von Nerven

Willkürliche motorische Erregung.
Grunde wird er es auch verschmähen durch andere, leicht zu findende,
zum Theil plausible Unterstellungen, die Annahme zu bekämpfen,
welche die Hirnfunktionen ganz unnöthigerweise als ausserhalb der
Naturgrenzen stehend ansieht. Die Wissenschaft verschmäht die
Scheingefechte.

2. Der Willkürbewegung sind nur eine beschränkte Zahl von
Muskeln und Drüsennerven unterworfen und zwar in ganz verschie-
dener Weise.

a. Unbeschränkt der Willkür unterworfen sind, wie es scheint,
die inneren Augenmuskeln, die mimischen Gesichtsmuskeln, die der
Zunge, die Strecker und Beuger der Wirbelsäule und des Kopfes, das
Zwerchfell (?) und die Muskeln der Arme und Beine. Diese Muskeln
können in jeder beliebigen Reihenfolge, in jeglicher gleichzeitiger
Verbindung miteinander und zu jeder beliebigen Zeit gehemmt oder
bewegt werden.

b. Eine andere Zahl von Muskeln ist nur unter gewisser Combi-
nation mit andern der Willkür unterthan, z. B. die Iris nur mit den
Accommodationsmuskeln und den inneren und oberen Augenmuskeln;
ferner die beiden mm. recti bulbi externi nicht gleichzeitig, wenn die
Erregungsstärke einen gewissen Grad übersteigt; ferner der m. hyo-
thyreoideus nur beim Schlingen oder Tonangeben, der tensor tympani
beim Kauen, die constrictores pharyngis nur beim Schlingakt; gemein-
sam auf beiden Seiten nur die Muskeln des larynx, pharynx, des Gau-
mensegels und Perinäums.

c. Eine dritte Zahl endlich ist nur in gewissen (sogenannten
leidenschaftlichen) Zuständen der Willkür unterworfen. Hierher zählt
die Herzhemmung oder Beschleunigung bei Angst oder Spannung, die
Durchfälle nach Angst, die Erektion des Penis in dem Geschlechtstrieb,
die Thränenabsonderung beim Kummer, die Speichelabsonderung bei
Essbegier u. dgl.

Die unter den beiden letzten Buchstaben erwähnten Muskeln und Akte bedürf-
ten einer genauen Aussonderung. Hier wäre auch Rücksicht auf die Hirnzustände
zu nehmen, in welchen nur einzelne von den unbeschränkt der Willkür unterwor-
fene Bewegungsapparaten dem Willen vollkommen gehorchen, während andre vor-
übergehend ganz ausgeschlossen sind, wie beim Nachtwandlen, Alpdrücken u. s. w.

3. Niemals können alle der Willkür unterworfenen Muskelnerven
gleichzeitig durch dieselbe in Erregung versetzt werden; die Zahl der
möglicher Weise gleichzeitig erregbaren Nerven ist jedoch unbe-
kannt; Joh. Müller.

Zuerst scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass man niemals
weniger Nervenröhren gleichzeitig zu erregen im Stande ist, als
soviel sich zu einem geschlossenen Muskel begeben, da Niemand, so
weit bekannt, nur einzelne Bündel eines solchen isolirt bewegen kann.
— Ferner scheint es, dass sich bei den bedingt willkürlichen Bewe-
gungen jedesmal die Anregung über eine grössere Zahl von Nerven

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[447/0461] Willkürliche motorische Erregung. Grunde wird er es auch verschmähen durch andere, leicht zu findende, zum Theil plausible Unterstellungen, die Annahme zu bekämpfen, welche die Hirnfunktionen ganz unnöthigerweise als ausserhalb der Naturgrenzen stehend ansieht. Die Wissenschaft verschmäht die Scheingefechte. 2. Der Willkürbewegung sind nur eine beschränkte Zahl von Muskeln und Drüsennerven unterworfen und zwar in ganz verschie- dener Weise. a. Unbeschränkt der Willkür unterworfen sind, wie es scheint, die inneren Augenmuskeln, die mimischen Gesichtsmuskeln, die der Zunge, die Strecker und Beuger der Wirbelsäule und des Kopfes, das Zwerchfell (?) und die Muskeln der Arme und Beine. Diese Muskeln können in jeder beliebigen Reihenfolge, in jeglicher gleichzeitiger Verbindung miteinander und zu jeder beliebigen Zeit gehemmt oder bewegt werden. b. Eine andere Zahl von Muskeln ist nur unter gewisser Combi- nation mit andern der Willkür unterthan, z. B. die Iris nur mit den Accommodationsmuskeln und den inneren und oberen Augenmuskeln; ferner die beiden mm. recti bulbi externi nicht gleichzeitig, wenn die Erregungsstärke einen gewissen Grad übersteigt; ferner der m. hyo- thyreoideus nur beim Schlingen oder Tonangeben, der tensor tympani beim Kauen, die constrictores pharyngis nur beim Schlingakt; gemein- sam auf beiden Seiten nur die Muskeln des larynx, pharynx, des Gau- mensegels und Perinäums. c. Eine dritte Zahl endlich ist nur in gewissen (sogenannten leidenschaftlichen) Zuständen der Willkür unterworfen. Hierher zählt die Herzhemmung oder Beschleunigung bei Angst oder Spannung, die Durchfälle nach Angst, die Erektion des Penis in dem Geschlechtstrieb, die Thränenabsonderung beim Kummer, die Speichelabsonderung bei Essbegier u. dgl. Die unter den beiden letzten Buchstaben erwähnten Muskeln und Akte bedürf- ten einer genauen Aussonderung. Hier wäre auch Rücksicht auf die Hirnzustände zu nehmen, in welchen nur einzelne von den unbeschränkt der Willkür unterwor- fene Bewegungsapparaten dem Willen vollkommen gehorchen, während andre vor- übergehend ganz ausgeschlossen sind, wie beim Nachtwandlen, Alpdrücken u. s. w. 3. Niemals können alle der Willkür unterworfenen Muskelnerven gleichzeitig durch dieselbe in Erregung versetzt werden; die Zahl der möglicher Weise gleichzeitig erregbaren Nerven ist jedoch unbe- kannt; Joh. Müller. Zuerst scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass man niemals weniger Nervenröhren gleichzeitig zu erregen im Stande ist, als soviel sich zu einem geschlossenen Muskel begeben, da Niemand, so weit bekannt, nur einzelne Bündel eines solchen isolirt bewegen kann. — Ferner scheint es, dass sich bei den bedingt willkürlichen Bewe- gungen jedesmal die Anregung über eine grössere Zahl von Nerven

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/461>, abgerufen am 19.04.2024.