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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Uebung.
Fälle unsere Aufmerksamkeit zu fesseln geeignet, in welchen die Fähigkeit zu Bewe-
gungen sehr abnimmt, obwohl kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Nerven
oder Muskeln eine Schwächung ihrer Kräfte erlitten haben; wir zählen hierher die
Ermüdung nach geistigen Anstrengungen, nach einer plötzlichen Gemüthsbewegung,
nach dem Genuss von Opium u. s. w. Da in einzelnen dieser Beispiele das erregende
Prinzip durch seine Thätigkeit seine Kräfte verzehrt, -- wie nach längerem Nach-
denken -- oder in der Ausübung derselben durch Gegenwart eines chemisch wirk-
samen Stoffes gehindert wird; da ferner durch eine angemessene Ruhe die Fähigkeit
zur Kraftentwicklung wiederkehrt, so liesse sich der Zusammenhang der Erschei-
nungen so deuten, dass das willkürlich erregende Prinzip von Ernährung-, resp.
chemischen Veränderungen in seinen Kraftentwicklungen, abhängig wäre. Liesse sich
diese Vermuthung zur Gewissheit erheben, so würde ein beträchtlicher Schritt zur
Erkenntniss des räthselhaften Vermögens geschehen sein.

7. Mit dem Worte Uebung bezeichnet man Beziehungen zwischen
dem willkürlich erregenden Prinzip und den Nerven, die denen analog
sein mögen, welche man zwischen Empfindung und Nerven mit dem
Namen der Gewohnheit belegt. -- Durch häufige Einwirkungen der
willkürlichen Erregung auf einzelne Bewegungsnerven geschieht es,
dass die den letztern zugehörigen Muskelbewegungen eine grössere
Kraft gewinnen; da die Erregbarkeit durch öftere Thätigkeit der Mus-
keln und Nerven derselben wächst, so kann die Erscheinung unge-
zwungen hiervon abgeleitet werden. -- Durch Uebung werden aber
auch die Muskeln befähigt mit grösserer Geschwindigkeit in zeitlicher
Reihenfolge in Contraktion zu gerathen, und ausserdem wird die Mög-
lichkeit der gleichzeitigen Bewegung verschiedener Muskeln durch
Uebung verändert. -- In ersterer Beziehung ist es eine tägliche Er-
fahrung, dass Bewegungen, welche äusserst langsam aufeinander
folgten, als sie zuerst unternommen wurden, später, nach häufiger
Wiederholung, mit der grössten Geschwindigkeit hintereinander ge-
schehen. Das gleichzeitige Nebeneinander der Bewegungen betreffend,
so können durch Uebung sowohl eine Anzahl scheinbar angeborner Com-
binationen gelöst, als auch neue früher unmögliche eingeführt werden.
Beide Vermögen, das der Vereinzelung und das des gleichzeitigen Ein-
tretens haben aber eine wohlgezogene Grenze, über welche hinaus
die Uebung nicht mehr wirkt. --

Für das Vermögen der Isolirung und neuen Combination dienen als Beispiele die
Erfahrungen, dass man durch Uebung die einzelnen Finger gesondert beugen, ferner
dass man gleichzeitig nach zwei verschiedenen Richtungen Arme und Beine rotiren
lernt u. s. w. -- Ob es gelingt die Sonderung in der Bewegung auch auf einzelne Mus-
kelbündel auszudehnen, oder gar die Accommodations- oder Irisbewegung von der
des Bulbus zu sondern, oder aus dem Schlingakt einzelne Muskeln auszuscheiden etc.
ist sehr problematisch. Ganz überraschend und unheimlich ist die Erscheinung, dass
gewisse Combinationen der Bewegung, wenn sie öfter wiederholt wurden, endlich
gegen den Willen geschehen. Die Richtigkeit der Beobachtung steht bei der Schwie-
rigkeit derselben noch in Frage. Denn wer kann wissen, ob nicht ein Zucken der Ge-
sichtsmuskeln, oder gar Krämpfe u. dgl., welche man als Folgen der Angewöhnung
ansieht, doch Folgen eines besonderen Hirnleidens sind?

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Uebung.
Fälle unsere Aufmerksamkeit zu fesseln geeignet, in welchen die Fähigkeit zu Bewe-
gungen sehr abnimmt, obwohl kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Nerven
oder Muskeln eine Schwächung ihrer Kräfte erlitten haben; wir zählen hierher die
Ermüdung nach geistigen Anstrengungen, nach einer plötzlichen Gemüthsbewegung,
nach dem Genuss von Opium u. s. w. Da in einzelnen dieser Beispiele das erregende
Prinzip durch seine Thätigkeit seine Kräfte verzehrt, — wie nach längerem Nach-
denken — oder in der Ausübung derselben durch Gegenwart eines chemisch wirk-
samen Stoffes gehindert wird; da ferner durch eine angemessene Ruhe die Fähigkeit
zur Kraftentwicklung wiederkehrt, so liesse sich der Zusammenhang der Erschei-
nungen so deuten, dass das willkürlich erregende Prinzip von Ernährung-, resp.
chemischen Veränderungen in seinen Kraftentwicklungen, abhängig wäre. Liesse sich
diese Vermuthung zur Gewissheit erheben, so würde ein beträchtlicher Schritt zur
Erkenntniss des räthselhaften Vermögens geschehen sein.

7. Mit dem Worte Uebung bezeichnet man Beziehungen zwischen
dem willkürlich erregenden Prinzip und den Nerven, die denen analog
sein mögen, welche man zwischen Empfindung und Nerven mit dem
Namen der Gewohnheit belegt. — Durch häufige Einwirkungen der
willkürlichen Erregung auf einzelne Bewegungsnerven geschieht es,
dass die den letztern zugehörigen Muskelbewegungen eine grössere
Kraft gewinnen; da die Erregbarkeit durch öftere Thätigkeit der Mus-
keln und Nerven derselben wächst, so kann die Erscheinung unge-
zwungen hiervon abgeleitet werden. — Durch Uebung werden aber
auch die Muskeln befähigt mit grösserer Geschwindigkeit in zeitlicher
Reihenfolge in Contraktion zu gerathen, und ausserdem wird die Mög-
lichkeit der gleichzeitigen Bewegung verschiedener Muskeln durch
Uebung verändert. — In ersterer Beziehung ist es eine tägliche Er-
fahrung, dass Bewegungen, welche äusserst langsam aufeinander
folgten, als sie zuerst unternommen wurden, später, nach häufiger
Wiederholung, mit der grössten Geschwindigkeit hintereinander ge-
schehen. Das gleichzeitige Nebeneinander der Bewegungen betreffend,
so können durch Uebung sowohl eine Anzahl scheinbar angeborner Com-
binationen gelöst, als auch neue früher unmögliche eingeführt werden.
Beide Vermögen, das der Vereinzelung und das des gleichzeitigen Ein-
tretens haben aber eine wohlgezogene Grenze, über welche hinaus
die Uebung nicht mehr wirkt. —

Für das Vermögen der Isolirung und neuen Combination dienen als Beispiele die
Erfahrungen, dass man durch Uebung die einzelnen Finger gesondert beugen, ferner
dass man gleichzeitig nach zwei verschiedenen Richtungen Arme und Beine rotiren
lernt u. s. w. — Ob es gelingt die Sonderung in der Bewegung auch auf einzelne Mus-
kelbündel auszudehnen, oder gar die Accommodations- oder Irisbewegung von der
des Bulbus zu sondern, oder aus dem Schlingakt einzelne Muskeln auszuscheiden etc.
ist sehr problematisch. Ganz überraschend und unheimlich ist die Erscheinung, dass
gewisse Combinationen der Bewegung, wenn sie öfter wiederholt wurden, endlich
gegen den Willen geschehen. Die Richtigkeit der Beobachtung steht bei der Schwie-
rigkeit derselben noch in Frage. Denn wer kann wissen, ob nicht ein Zucken der Ge-
sichtsmuskeln, oder gar Krämpfe u. dgl., welche man als Folgen der Angewöhnung
ansieht, doch Folgen eines besonderen Hirnleidens sind?

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[451/0465] Uebung. Fälle unsere Aufmerksamkeit zu fesseln geeignet, in welchen die Fähigkeit zu Bewe- gungen sehr abnimmt, obwohl kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Nerven oder Muskeln eine Schwächung ihrer Kräfte erlitten haben; wir zählen hierher die Ermüdung nach geistigen Anstrengungen, nach einer plötzlichen Gemüthsbewegung, nach dem Genuss von Opium u. s. w. Da in einzelnen dieser Beispiele das erregende Prinzip durch seine Thätigkeit seine Kräfte verzehrt, — wie nach längerem Nach- denken — oder in der Ausübung derselben durch Gegenwart eines chemisch wirk- samen Stoffes gehindert wird; da ferner durch eine angemessene Ruhe die Fähigkeit zur Kraftentwicklung wiederkehrt, so liesse sich der Zusammenhang der Erschei- nungen so deuten, dass das willkürlich erregende Prinzip von Ernährung-, resp. chemischen Veränderungen in seinen Kraftentwicklungen, abhängig wäre. Liesse sich diese Vermuthung zur Gewissheit erheben, so würde ein beträchtlicher Schritt zur Erkenntniss des räthselhaften Vermögens geschehen sein. 7. Mit dem Worte Uebung bezeichnet man Beziehungen zwischen dem willkürlich erregenden Prinzip und den Nerven, die denen analog sein mögen, welche man zwischen Empfindung und Nerven mit dem Namen der Gewohnheit belegt. — Durch häufige Einwirkungen der willkürlichen Erregung auf einzelne Bewegungsnerven geschieht es, dass die den letztern zugehörigen Muskelbewegungen eine grössere Kraft gewinnen; da die Erregbarkeit durch öftere Thätigkeit der Mus- keln und Nerven derselben wächst, so kann die Erscheinung unge- zwungen hiervon abgeleitet werden. — Durch Uebung werden aber auch die Muskeln befähigt mit grösserer Geschwindigkeit in zeitlicher Reihenfolge in Contraktion zu gerathen, und ausserdem wird die Mög- lichkeit der gleichzeitigen Bewegung verschiedener Muskeln durch Uebung verändert. — In ersterer Beziehung ist es eine tägliche Er- fahrung, dass Bewegungen, welche äusserst langsam aufeinander folgten, als sie zuerst unternommen wurden, später, nach häufiger Wiederholung, mit der grössten Geschwindigkeit hintereinander ge- schehen. Das gleichzeitige Nebeneinander der Bewegungen betreffend, so können durch Uebung sowohl eine Anzahl scheinbar angeborner Com- binationen gelöst, als auch neue früher unmögliche eingeführt werden. Beide Vermögen, das der Vereinzelung und das des gleichzeitigen Ein- tretens haben aber eine wohlgezogene Grenze, über welche hinaus die Uebung nicht mehr wirkt. — Für das Vermögen der Isolirung und neuen Combination dienen als Beispiele die Erfahrungen, dass man durch Uebung die einzelnen Finger gesondert beugen, ferner dass man gleichzeitig nach zwei verschiedenen Richtungen Arme und Beine rotiren lernt u. s. w. — Ob es gelingt die Sonderung in der Bewegung auch auf einzelne Mus- kelbündel auszudehnen, oder gar die Accommodations- oder Irisbewegung von der des Bulbus zu sondern, oder aus dem Schlingakt einzelne Muskeln auszuscheiden etc. ist sehr problematisch. Ganz überraschend und unheimlich ist die Erscheinung, dass gewisse Combinationen der Bewegung, wenn sie öfter wiederholt wurden, endlich gegen den Willen geschehen. Die Richtigkeit der Beobachtung steht bei der Schwie- rigkeit derselben noch in Frage. Denn wer kann wissen, ob nicht ein Zucken der Ge- sichtsmuskeln, oder gar Krämpfe u. dgl., welche man als Folgen der Angewöhnung ansieht, doch Folgen eines besonderen Hirnleidens sind? 29*

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/465>, abgerufen am 24.04.2024.