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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Beziehungen des grossen Gehirns zur Seele.
Unterstellung erhält sogar aus den Traumerscheinungen einige Wahr-
scheinlichkeit, indem hier unsere eigenen Empfindungen und Vorstel-
lungen uns als absolut äussere erscheinen, die wir z. B. fragen.
b) Die Identität soll ferner daraus hervorgehen, dass innerhalb
gewisser Grenzen die drei Funktionen sich ausschliessen, wie
man bekanntlich über eifriges Denken das Bewegen oder Empfinden,
oder über eifriges Empfinden das Denken oder Bewegen u. s. w. ver-
gisst. Wie wäre es aber dann zu erläutern, dass beim Sehen von
körperlichen Dingen, beim Tasten u. s. w., wobei sich Bewegung und
Empfindung combiniren, diese beiden Akte in eine Vorstellung zusam-
menfliessen? c. Endlich soll der Beweis der Identität durch die Er-
müdung geliefert werden, welche im Empfinden oder im Bewegen
nach dem emsigen Denken, oder im Denken und Bewegen nach emsi-
gem Empfinden u. s. w. eintritt. Dieser Satz beweisst aber wenig, so
lange man nicht den Einwurf beseitigt, dass möglicher Weise die drei
Organe aus derselben Quelle ihre Nahrung ziehen u. s. w.

Zudem steht der Hypothese eine ganz unlösbare Schwierigkeit
entgegen. Wie wir schon wiederholt bemerkten, liegen nirgends
Gründe vor, die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Verschie-
denheit in den empfindenden und bewegenden Nervenröhren anzu-
nehmen. Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschie-
denheit in der Resultirenden der Gegenwirkungen der gleichartigen
Nerven und der gleichartigen Seele erläutert werden? -- Diese
Schwierigkeit mahnt uns daran, wenigstens daran zu denken, dass
das, was man Seele nennt, ein sehr complizirtes Gebilde sei, des-
sen einzelne Theile in einer innigen Wechselbeziehung stehen, ver-
möge deren die Zustände eines Theils sich dem Ganzen leicht mit-
theilen.

2. Zu den Bedingungen an deren Vorhandensein sich die Seelen-
erscheinungen knüpfen, gehört unzweifelhaft das normale Bestehen
des grossen Gehirns; denn dorthin laufen alle der Empfindung und
Willkürbewegung untergebenen Nervenröhren zusammen; dazu
kommt, dass ausgebreitete Verletzungen des grossen Gehirns so-
gleich die Seelenthätigkeiten in ausgesprochenerer Weise vernichten,
als die eines jeden andern nervösen oder irgendwie sonst gebauten
Organs. Der besondere Ort des grossen Organs aber, in dem die
Seelenerscheinungen vor sich gehen, ist unbekannt. --

Alle Methoden *) zur Ermittelung des Sitzes der Seele, leiden an zwei Grund-
fehlern. Wenn man, wie es jedesmal geschieht, aus dem Wegfall des einen oder
andern Hirntheils und einem entsprechenden Mangel geistiger Leistungen einen Schluss
auf den ursächlichen Zusammenhang beider macht, so bleibt zu wünschen übrig:
a. Ein sicheres Reagens für die Gegenwart oder Abwesenheit der
geistigen Erscheinungen
. Schon in der Beurtheilung über die Gegenwart der

*) Longet, Traite de physiologie II. Bd. 2. fasc. p. 35 u. f. -- Lebert in Virchow's Archiv
III. 524.

Beziehungen des grossen Gehirns zur Seele.
Unterstellung erhält sogar aus den Traumerscheinungen einige Wahr-
scheinlichkeit, indem hier unsere eigenen Empfindungen und Vorstel-
lungen uns als absolut äussere erscheinen, die wir z. B. fragen.
b) Die Identität soll ferner daraus hervorgehen, dass innerhalb
gewisser Grenzen die drei Funktionen sich ausschliessen, wie
man bekanntlich über eifriges Denken das Bewegen oder Empfinden,
oder über eifriges Empfinden das Denken oder Bewegen u. s. w. ver-
gisst. Wie wäre es aber dann zu erläutern, dass beim Sehen von
körperlichen Dingen, beim Tasten u. s. w., wobei sich Bewegung und
Empfindung combiniren, diese beiden Akte in eine Vorstellung zusam-
menfliessen? c. Endlich soll der Beweis der Identität durch die Er-
müdung geliefert werden, welche im Empfinden oder im Bewegen
nach dem emsigen Denken, oder im Denken und Bewegen nach emsi-
gem Empfinden u. s. w. eintritt. Dieser Satz beweisst aber wenig, so
lange man nicht den Einwurf beseitigt, dass möglicher Weise die drei
Organe aus derselben Quelle ihre Nahrung ziehen u. s. w.

Zudem steht der Hypothese eine ganz unlösbare Schwierigkeit
entgegen. Wie wir schon wiederholt bemerkten, liegen nirgends
Gründe vor, die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Verschie-
denheit in den empfindenden und bewegenden Nervenröhren anzu-
nehmen. Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschie-
denheit in der Resultirenden der Gegenwirkungen der gleichartigen
Nerven und der gleichartigen Seele erläutert werden? — Diese
Schwierigkeit mahnt uns daran, wenigstens daran zu denken, dass
das, was man Seele nennt, ein sehr complizirtes Gebilde sei, des-
sen einzelne Theile in einer innigen Wechselbeziehung stehen, ver-
möge deren die Zustände eines Theils sich dem Ganzen leicht mit-
theilen.

2. Zu den Bedingungen an deren Vorhandensein sich die Seelen-
erscheinungen knüpfen, gehört unzweifelhaft das normale Bestehen
des grossen Gehirns; denn dorthin laufen alle der Empfindung und
Willkürbewegung untergebenen Nervenröhren zusammen; dazu
kommt, dass ausgebreitete Verletzungen des grossen Gehirns so-
gleich die Seelenthätigkeiten in ausgesprochenerer Weise vernichten,
als die eines jeden andern nervösen oder irgendwie sonst gebauten
Organs. Der besondere Ort des grossen Organs aber, in dem die
Seelenerscheinungen vor sich gehen, ist unbekannt. —

Alle Methoden *) zur Ermittelung des Sitzes der Seele, leiden an zwei Grund-
fehlern. Wenn man, wie es jedesmal geschieht, aus dem Wegfall des einen oder
andern Hirntheils und einem entsprechenden Mangel geistiger Leistungen einen Schluss
auf den ursächlichen Zusammenhang beider macht, so bleibt zu wünschen übrig:
a. Ein sicheres Reagens für die Gegenwart oder Abwesenheit der
geistigen Erscheinungen
. Schon in der Beurtheilung über die Gegenwart der

*) Longet, Traite de physiologie II. Bd. 2. fasc. p. 35 u. f. — Lebert in Virchow’s Archiv
III. 524.
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[453/0467] Beziehungen des grossen Gehirns zur Seele. Unterstellung erhält sogar aus den Traumerscheinungen einige Wahr- scheinlichkeit, indem hier unsere eigenen Empfindungen und Vorstel- lungen uns als absolut äussere erscheinen, die wir z. B. fragen. b) Die Identität soll ferner daraus hervorgehen, dass innerhalb gewisser Grenzen die drei Funktionen sich ausschliessen, wie man bekanntlich über eifriges Denken das Bewegen oder Empfinden, oder über eifriges Empfinden das Denken oder Bewegen u. s. w. ver- gisst. Wie wäre es aber dann zu erläutern, dass beim Sehen von körperlichen Dingen, beim Tasten u. s. w., wobei sich Bewegung und Empfindung combiniren, diese beiden Akte in eine Vorstellung zusam- menfliessen? c. Endlich soll der Beweis der Identität durch die Er- müdung geliefert werden, welche im Empfinden oder im Bewegen nach dem emsigen Denken, oder im Denken und Bewegen nach emsi- gem Empfinden u. s. w. eintritt. Dieser Satz beweisst aber wenig, so lange man nicht den Einwurf beseitigt, dass möglicher Weise die drei Organe aus derselben Quelle ihre Nahrung ziehen u. s. w. Zudem steht der Hypothese eine ganz unlösbare Schwierigkeit entgegen. Wie wir schon wiederholt bemerkten, liegen nirgends Gründe vor, die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Verschie- denheit in den empfindenden und bewegenden Nervenröhren anzu- nehmen. Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschie- denheit in der Resultirenden der Gegenwirkungen der gleichartigen Nerven und der gleichartigen Seele erläutert werden? — Diese Schwierigkeit mahnt uns daran, wenigstens daran zu denken, dass das, was man Seele nennt, ein sehr complizirtes Gebilde sei, des- sen einzelne Theile in einer innigen Wechselbeziehung stehen, ver- möge deren die Zustände eines Theils sich dem Ganzen leicht mit- theilen. 2. Zu den Bedingungen an deren Vorhandensein sich die Seelen- erscheinungen knüpfen, gehört unzweifelhaft das normale Bestehen des grossen Gehirns; denn dorthin laufen alle der Empfindung und Willkürbewegung untergebenen Nervenröhren zusammen; dazu kommt, dass ausgebreitete Verletzungen des grossen Gehirns so- gleich die Seelenthätigkeiten in ausgesprochenerer Weise vernichten, als die eines jeden andern nervösen oder irgendwie sonst gebauten Organs. Der besondere Ort des grossen Organs aber, in dem die Seelenerscheinungen vor sich gehen, ist unbekannt. — Alle Methoden *) zur Ermittelung des Sitzes der Seele, leiden an zwei Grund- fehlern. Wenn man, wie es jedesmal geschieht, aus dem Wegfall des einen oder andern Hirntheils und einem entsprechenden Mangel geistiger Leistungen einen Schluss auf den ursächlichen Zusammenhang beider macht, so bleibt zu wünschen übrig: a. Ein sicheres Reagens für die Gegenwart oder Abwesenheit der geistigen Erscheinungen. Schon in der Beurtheilung über die Gegenwart der *) Longet, Traite de physiologie II. Bd. 2. fasc. p. 35 u. f. — Lebert in Virchow’s Archiv III. 524.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/467>, abgerufen am 29.03.2024.