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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856.

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Vorrede.
geben wir zu bedenken, dass die Physiologie der Pathologie doch
nur dann nützlich werden kann, wenn sie die primitiven Bedingun-
gen, aus denen das gesunde Leben fliesst, mit möglichster Schärfe
feststellt. Wenn dieses geschehen, so wird der Arzt die Grenze des
Kranken und Gesunden finden, er wird, wenn er einen kranken
Prozess ebenso zergliedert hat, wie der Physiologe den
gesunden
, erkennen, welche Bedingungen zu ändern sind, damit
die normalen Resultirenden wieder zum Vorscheine kommen u. s. w.
u. s. w. Da Alles dieses so vollkommen klar und unwidersprechlich
wahr ist, so kann offenbar die genannte Klage der Pathologen nur
in einem Missverständnisse ruhen, ähnlich dem, das früher die prak-
tischen Bergleute, Hydrauliker, Chemiker u. s. w. veranlasste, die
Bemühungen der theoretischen Mechanik und Chemie für unprak-
tische Spielerei zu erklären. Wenn es erst den unablässigen Bemü-
hungen der Physiologen gelungen sein wird, die Theorie der Lebens-
erscheinungen im physikalischen Sinne weiter, als es heute gesche-
hen, zu fördern, und wenn erst die Pathologen ihre Methoden schär-
fen, wenn die Bemühungen von Traube, Frerichs, Virchow,
Oppolzer, J. Vogel, Skoda, Buhl
u. a. Wenigen nicht mehr
vereinzelt stehen, so wird sich dieser Zwiespalt auf demselben Wege
wie in der Technik lösen. Soviel möge aber der ärztliche Prak-
tiker uns einstweilen auf das Wort hin glauben, die physikalische
Schule wird niemals die guten pathologischen und therapeutischen
Erfahrungen verdächtigen, wenn ihre Aussagen sich auch im schnei-
dendsten Gegensatze zu unserer Theorie finden sollten. Denn wir
sind selbst Männer der Erfahrung, und wissen darum, dass der That-
sache immer das letzte Wort gebührt.

Zum Schlusse noch einen Zuspruch an die Anfänger, welche
die physikalische Physiologie schwerer als die gemüthlichen Erörte-
rungen einiger Morphologen finden. Unläugbar ist diese Klage be-
gründet; aber sie enthält keinen Vorwurf für die Darstellung; denn
die Schwierigkeit ist darum vorhanden, weil die physikalische Phy-
siologie in der That in alle Verwickelungen des Lebens einzudringen
sucht. Wir erwiedern Euch darum: die geringe Anstrengung, die
Ihr dort gemacht habt, ist verloren, weil das Resultat nicht zur ge-
wünschten Einsicht führt, während die grössere, die Ihr hier leistet,

Vorrede.
geben wir zu bedenken, dass die Physiologie der Pathologie doch
nur dann nützlich werden kann, wenn sie die primitiven Bedingun-
gen, aus denen das gesunde Leben fliesst, mit möglichster Schärfe
feststellt. Wenn dieses geschehen, so wird der Arzt die Grenze des
Kranken und Gesunden finden, er wird, wenn er einen kranken
Prozess ebenso zergliedert hat, wie der Physiologe den
gesunden
, erkennen, welche Bedingungen zu ändern sind, damit
die normalen Resultirenden wieder zum Vorscheine kommen u. s. w.
u. s. w. Da Alles dieses so vollkommen klar und unwidersprechlich
wahr ist, so kann offenbar die genannte Klage der Pathologen nur
in einem Missverständnisse ruhen, ähnlich dem, das früher die prak-
tischen Bergleute, Hydrauliker, Chemiker u. s. w. veranlasste, die
Bemühungen der theoretischen Mechanik und Chemie für unprak-
tische Spielerei zu erklären. Wenn es erst den unablässigen Bemü-
hungen der Physiologen gelungen sein wird, die Theorie der Lebens-
erscheinungen im physikalischen Sinne weiter, als es heute gesche-
hen, zu fördern, und wenn erst die Pathologen ihre Methoden schär-
fen, wenn die Bemühungen von Traube, Frerichs, Virchow,
Oppolzer, J. Vogel, Skoda, Buhl
u. a. Wenigen nicht mehr
vereinzelt stehen, so wird sich dieser Zwiespalt auf demselben Wege
wie in der Technik lösen. Soviel möge aber der ärztliche Prak-
tiker uns einstweilen auf das Wort hin glauben, die physikalische
Schule wird niemals die guten pathologischen und therapeutischen
Erfahrungen verdächtigen, wenn ihre Aussagen sich auch im schnei-
dendsten Gegensatze zu unserer Theorie finden sollten. Denn wir
sind selbst Männer der Erfahrung, und wissen darum, dass der That-
sache immer das letzte Wort gebührt.

Zum Schlusse noch einen Zuspruch an die Anfänger, welche
die physikalische Physiologie schwerer als die gemüthlichen Erörte-
rungen einiger Morphologen finden. Unläugbar ist diese Klage be-
gründet; aber sie enthält keinen Vorwurf für die Darstellung; denn
die Schwierigkeit ist darum vorhanden, weil die physikalische Phy-
siologie in der That in alle Verwickelungen des Lebens einzudringen
sucht. Wir erwiedern Euch darum: die geringe Anstrengung, die
Ihr dort gemacht habt, ist verloren, weil das Resultat nicht zur ge-
wünschten Einsicht führt, während die grössere, die Ihr hier leistet,

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[VII/0013] Vorrede. geben wir zu bedenken, dass die Physiologie der Pathologie doch nur dann nützlich werden kann, wenn sie die primitiven Bedingun- gen, aus denen das gesunde Leben fliesst, mit möglichster Schärfe feststellt. Wenn dieses geschehen, so wird der Arzt die Grenze des Kranken und Gesunden finden, er wird, wenn er einen kranken Prozess ebenso zergliedert hat, wie der Physiologe den gesunden, erkennen, welche Bedingungen zu ändern sind, damit die normalen Resultirenden wieder zum Vorscheine kommen u. s. w. u. s. w. Da Alles dieses so vollkommen klar und unwidersprechlich wahr ist, so kann offenbar die genannte Klage der Pathologen nur in einem Missverständnisse ruhen, ähnlich dem, das früher die prak- tischen Bergleute, Hydrauliker, Chemiker u. s. w. veranlasste, die Bemühungen der theoretischen Mechanik und Chemie für unprak- tische Spielerei zu erklären. Wenn es erst den unablässigen Bemü- hungen der Physiologen gelungen sein wird, die Theorie der Lebens- erscheinungen im physikalischen Sinne weiter, als es heute gesche- hen, zu fördern, und wenn erst die Pathologen ihre Methoden schär- fen, wenn die Bemühungen von Traube, Frerichs, Virchow, Oppolzer, J. Vogel, Skoda, Buhl u. a. Wenigen nicht mehr vereinzelt stehen, so wird sich dieser Zwiespalt auf demselben Wege wie in der Technik lösen. Soviel möge aber der ärztliche Prak- tiker uns einstweilen auf das Wort hin glauben, die physikalische Schule wird niemals die guten pathologischen und therapeutischen Erfahrungen verdächtigen, wenn ihre Aussagen sich auch im schnei- dendsten Gegensatze zu unserer Theorie finden sollten. Denn wir sind selbst Männer der Erfahrung, und wissen darum, dass der That- sache immer das letzte Wort gebührt. Zum Schlusse noch einen Zuspruch an die Anfänger, welche die physikalische Physiologie schwerer als die gemüthlichen Erörte- rungen einiger Morphologen finden. Unläugbar ist diese Klage be- gründet; aber sie enthält keinen Vorwurf für die Darstellung; denn die Schwierigkeit ist darum vorhanden, weil die physikalische Phy- siologie in der That in alle Verwickelungen des Lebens einzudringen sucht. Wir erwiedern Euch darum: die geringe Anstrengung, die Ihr dort gemacht habt, ist verloren, weil das Resultat nicht zur ge- wünschten Einsicht führt, während die grössere, die Ihr hier leistet,

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie02_1856/13>, abgerufen am 29.03.2024.