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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856.

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und Veränderung der Zelle.
Umfangs Veränderungen erleidet, obwohl sie an allen Orten von einer
gleich zusammengesetzten Flüssigkeit umspült werde. Steht eine solche
Thatsache fest, so wird man es immer erst noch zu gewärtigen haben,
ob nicht schon bei der ersten Bildung jene nachträglich besonders ver-
änderten Stellen durch eigene Anordnungen bevorzugt waren, welche viel-
leicht weder durch die chemische Zerlegung noch durch das Mikroskop
festgestellt werden können. Denn diese Hilfsmittel sind auch nicht be-
fähigt, die abweichende Lagerung der Molekeln in zwei aufeinander
senkrechten Krystallachsen ans Licht zu bringen, und doch ist diese vor-
handen und in zahlreichen Fällen von bedeutendem Einfluss auf physika-
lische Vorgänge. -- Der Theoretiker aus der alten Schule wird uns ferner
entgegensetzen, dass gewisse Zellen sehr verschiedener Thiere in ihrer Ent-
wickelung sehr annähernd dieselbe Formfolge durchlaufen; und dass um-
gekehrt bei einem und demselben Thiere in einem und demselben Organe
zwei aneinander grenzende Gebilde, die ursprünglich einander sehr ähn-
lich, wenn nicht gleich, waren, doch ganz verschiedene Formfolgen wäh-
rend des Lebens erfahren. Er wird in diesen allerdings sehr gewöhnlichen
Vorkommnissen den Beweis finden, dass die Formbildung von den um-
spülenden Säften vollkommen unabhängig sei. Diese Thatsachen erlauben
aber noch andere viel näher liegende Deutungen; wer weiss nicht, dass
die verschiedensten Componenten zu ganz denselben Resultirenden füh-
ren können. Und wenn dieses der Fall, so muss es auch möglich
sein, dass Frosch und Menschen trotz aller Abweichung ihrer Ernäh-
rungssäfte Deck- und Drüsenzellen und Tochterformen derselben von an-
nähernd gleicher Form erzeugen. -- Wenn aber umgekehrt die ursprüng-
lich ganz ähnlichen Gebilde eine verschiedene Formfolge erfahren, so
beweist dieses nur, dass dem Organismus eben so zahlreiche als feine
Hilfsmittel zu Gebote stehen, um auf beschränktem Raume zahlreiche
chemische Prozesse einzuleiten, ohne dass sie sich gegenseitig stören
oder gar aufheben. In dem Ei, einer chemischen Werkstätte von rela-
tiver Einfachheit, ist doch schon ein so häufiger Wechsel von Fetten und
in Wasser löslichen Bestandtheilen gegeben, in ihm geht wegen der ge-
ringen Diffussibilität seiner Bestandtheile eine so langsame Ausgleichung
chemischer Differenzen von Statten, dass es uns nicht auffallen kann,
wenn sich an dem einen Ende desselben durch das Eindringen von
Wärme oder Flüssigkeiten Produkte bilden, welche dem andern Ende
fehlen. Wie viel leichter muss dieses aber in einem Organe möglich
sein, das aus zahlreichen Zellen, Fasern und Röhren gebaut ist und dazu
noch in mikroskopischen Zwischenräumen von Blut- und Lymphgefässen
durchzogen wird. Welche Widerstände werden die vielen Häute der Verbrei-
tung eines eindringenden und neugebildeten Stoffes entgegensetzen, und
wenn diese endlich überwunden sind, so wird der diffuntirte Stoff von den

und Veränderung der Zelle.
Umfangs Veränderungen erleidet, obwohl sie an allen Orten von einer
gleich zusammengesetzten Flüssigkeit umspült werde. Steht eine solche
Thatsache fest, so wird man es immer erst noch zu gewärtigen haben,
ob nicht schon bei der ersten Bildung jene nachträglich besonders ver-
änderten Stellen durch eigene Anordnungen bevorzugt waren, welche viel-
leicht weder durch die chemische Zerlegung noch durch das Mikroskop
festgestellt werden können. Denn diese Hilfsmittel sind auch nicht be-
fähigt, die abweichende Lagerung der Molekeln in zwei aufeinander
senkrechten Krystallachsen ans Licht zu bringen, und doch ist diese vor-
handen und in zahlreichen Fällen von bedeutendem Einfluss auf physika-
lische Vorgänge. — Der Theoretiker aus der alten Schule wird uns ferner
entgegensetzen, dass gewisse Zellen sehr verschiedener Thiere in ihrer Ent-
wickelung sehr annähernd dieselbe Formfolge durchlaufen; und dass um-
gekehrt bei einem und demselben Thiere in einem und demselben Organe
zwei aneinander grenzende Gebilde, die ursprünglich einander sehr ähn-
lich, wenn nicht gleich, waren, doch ganz verschiedene Formfolgen wäh-
rend des Lebens erfahren. Er wird in diesen allerdings sehr gewöhnlichen
Vorkommnissen den Beweis finden, dass die Formbildung von den um-
spülenden Säften vollkommen unabhängig sei. Diese Thatsachen erlauben
aber noch andere viel näher liegende Deutungen; wer weiss nicht, dass
die verschiedensten Componenten zu ganz denselben Resultirenden füh-
ren können. Und wenn dieses der Fall, so muss es auch möglich
sein, dass Frosch und Menschen trotz aller Abweichung ihrer Ernäh-
rungssäfte Deck- und Drüsenzellen und Tochterformen derselben von an-
nähernd gleicher Form erzeugen. — Wenn aber umgekehrt die ursprüng-
lich ganz ähnlichen Gebilde eine verschiedene Formfolge erfahren, so
beweist dieses nur, dass dem Organismus eben so zahlreiche als feine
Hilfsmittel zu Gebote stehen, um auf beschränktem Raume zahlreiche
chemische Prozesse einzuleiten, ohne dass sie sich gegenseitig stören
oder gar aufheben. In dem Ei, einer chemischen Werkstätte von rela-
tiver Einfachheit, ist doch schon ein so häufiger Wechsel von Fetten und
in Wasser löslichen Bestandtheilen gegeben, in ihm geht wegen der ge-
ringen Diffussibilität seiner Bestandtheile eine so langsame Ausgleichung
chemischer Differenzen von Statten, dass es uns nicht auffallen kann,
wenn sich an dem einen Ende desselben durch das Eindringen von
Wärme oder Flüssigkeiten Produkte bilden, welche dem andern Ende
fehlen. Wie viel leichter muss dieses aber in einem Organe möglich
sein, das aus zahlreichen Zellen, Fasern und Röhren gebaut ist und dazu
noch in mikroskopischen Zwischenräumen von Blut- und Lymphgefässen
durchzogen wird. Welche Widerstände werden die vielen Häute der Verbrei-
tung eines eindringenden und neugebildeten Stoffes entgegensetzen, und
wenn diese endlich überwunden sind, so wird der diffuntirte Stoff von den

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[164/0180] und Veränderung der Zelle. Umfangs Veränderungen erleidet, obwohl sie an allen Orten von einer gleich zusammengesetzten Flüssigkeit umspült werde. Steht eine solche Thatsache fest, so wird man es immer erst noch zu gewärtigen haben, ob nicht schon bei der ersten Bildung jene nachträglich besonders ver- änderten Stellen durch eigene Anordnungen bevorzugt waren, welche viel- leicht weder durch die chemische Zerlegung noch durch das Mikroskop festgestellt werden können. Denn diese Hilfsmittel sind auch nicht be- fähigt, die abweichende Lagerung der Molekeln in zwei aufeinander senkrechten Krystallachsen ans Licht zu bringen, und doch ist diese vor- handen und in zahlreichen Fällen von bedeutendem Einfluss auf physika- lische Vorgänge. — Der Theoretiker aus der alten Schule wird uns ferner entgegensetzen, dass gewisse Zellen sehr verschiedener Thiere in ihrer Ent- wickelung sehr annähernd dieselbe Formfolge durchlaufen; und dass um- gekehrt bei einem und demselben Thiere in einem und demselben Organe zwei aneinander grenzende Gebilde, die ursprünglich einander sehr ähn- lich, wenn nicht gleich, waren, doch ganz verschiedene Formfolgen wäh- rend des Lebens erfahren. Er wird in diesen allerdings sehr gewöhnlichen Vorkommnissen den Beweis finden, dass die Formbildung von den um- spülenden Säften vollkommen unabhängig sei. Diese Thatsachen erlauben aber noch andere viel näher liegende Deutungen; wer weiss nicht, dass die verschiedensten Componenten zu ganz denselben Resultirenden füh- ren können. Und wenn dieses der Fall, so muss es auch möglich sein, dass Frosch und Menschen trotz aller Abweichung ihrer Ernäh- rungssäfte Deck- und Drüsenzellen und Tochterformen derselben von an- nähernd gleicher Form erzeugen. — Wenn aber umgekehrt die ursprüng- lich ganz ähnlichen Gebilde eine verschiedene Formfolge erfahren, so beweist dieses nur, dass dem Organismus eben so zahlreiche als feine Hilfsmittel zu Gebote stehen, um auf beschränktem Raume zahlreiche chemische Prozesse einzuleiten, ohne dass sie sich gegenseitig stören oder gar aufheben. In dem Ei, einer chemischen Werkstätte von rela- tiver Einfachheit, ist doch schon ein so häufiger Wechsel von Fetten und in Wasser löslichen Bestandtheilen gegeben, in ihm geht wegen der ge- ringen Diffussibilität seiner Bestandtheile eine so langsame Ausgleichung chemischer Differenzen von Statten, dass es uns nicht auffallen kann, wenn sich an dem einen Ende desselben durch das Eindringen von Wärme oder Flüssigkeiten Produkte bilden, welche dem andern Ende fehlen. Wie viel leichter muss dieses aber in einem Organe möglich sein, das aus zahlreichen Zellen, Fasern und Röhren gebaut ist und dazu noch in mikroskopischen Zwischenräumen von Blut- und Lymphgefässen durchzogen wird. Welche Widerstände werden die vielen Häute der Verbrei- tung eines eindringenden und neugebildeten Stoffes entgegensetzen, und wenn diese endlich überwunden sind, so wird der diffuntirte Stoff von den

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie02_1856/180>, abgerufen am 29.03.2024.