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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856.

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Hunger.
scheinlichkeitsgrunde unterstützend anschliessen, oder vielmehr die Hypothese,
welche einen der Magennerven als Hunger erzeugenden ansieht, zur Thatsache er-
heben, wenn es feststände, dass ein jeder Gefühlsnerv nur die Orte seiner End-
verbreitung zur Empfindung bringen könnte. Da diese Annahme aber nicht bewiesen
ist, so liegt noch die andere offen, dass die Seele Empfindungen, die von anderen
Nerven erzeugt werden, auf den Magen bezieht. -- Der Versuch, mittelst Nerven-
durchschneidungen ins Klare zu kommen, scheint bis dahin erfolglos geblieben zu
sein. Namentlich hat man neuerlichst übereinstimmend festgestellt, dass Thiere,
deren nn. vagi am Halse durchnitten waren, unter Umständen noch begierig die vor-
gesetzte Speise verzehrten (Reid, Longet, Bidder u. A.), und dass ebenso
Katzen nach Durchschneidung der nn. splanchnici noch frassen (Haffter, C. Lud-
wig
). Diese Beobachtungen widerlegen aber keinenfalls die Annahme, dass sich an
diese Nerven die Hungerempfindung knüpfe, da noch mannigfaltige andere und na-
mentlich psychische Gründe Veranlassung zur Aufnahme der Speisen geben können.
Diesen letzteren müsste man es allerdings Schuld geben, wenn den Thieren, wie es
Longet ausführte, neben den nn. vagi auch noch die Geschmacksnerven durchschnit-
ten sind. -- Möglicher Weise ist aber der Hunger auch eine Empfindung, die sich
gleichzeitig zusammensetzt aus der Erregung der Magen- und noch vielfacher an-
derer Nerven, wie dieses Volkmann und Longet behaupten.

Die Veränderungen, welche die Säfte oder Organe, in welche die
Hungernerven eingebettet sind, erleiden müssen, um die Erregung dieser
letztern zu veranlassen, kennen wir nicht; statt dessen sind uns nur einige
ganz allgemeine Bedingungen bekannt, unter denen sie entsteht. Nament-
lich stellt sich der Hunger ein nach längeren Enthaltungen der Nahrung;
die Zeit, welche nach einer Mahlzeit verstreichen muss, bevor sich das
Bedürfniss nach einer neuen einfindet, variirt mit der Menge zuletzt auf-
genommener Nahrung und mit dem Blutverbrauch während der Enthal-
tung von derselben; so beschleunigen Muskelanstrengungen, Entleerun-
gen blutähnlicher Flüssigkeiten (Samen-, Milch-, Eiterverlust), Ablage-
rungen von Blutbestandtheilen in die Gewebe (Wachsthum, Erholungs-
stadium nach Krankheiten) den Eintritt desselben. -- Ferner ist sein
Kommen abhängig von seelischen Erregungen, indem er sich einstellt zu
gewissen Tageszeiten, an denen wir gewöhnt sind zu essen; man ver-
muthet in diesem Falle die Abwesenheit von Bedingungen, die den vor-
her erwähnten ähnlich sind, weil ein solcher Hunger auch leicht wieder
verschwindet, ohne dass das Nahrungsbedürfniss durch Aufnahme von
Speise befriedigt wurde.

Man giebt auch an, dass der Genuss einiger stark schmeckender Stoffe, wie
z. B. des Pfeffers, essbarer Seethiere (Austern, Häringe) u. s. w., Hunger er-
regt (?). -- Auch soll es einen pathologischen Hunger, den sog. Bulimus, geben, wor-
über Moleschott am bezeichneten Orte S. 87 um Rath zu fragen ist.

Die Stillung des Hungers kann entweder geschehen durch die Ab-
stumpfung der Erregbarkeit oder durch Entfernung der erregenden Ur-
sache. -- Auf den ersteren Fall wird man schliessen, wenn das Gefühl
nach längerem Bestehen verschwindet, auch ohne dass Nahrungsmittel
aufgenommen sind, oder wenn Arzneistoffe, die die Erregbarkeit ab-

Hunger.
scheinlichkeitsgrunde unterstützend anschliessen, oder vielmehr die Hypothese,
welche einen der Magennerven als Hunger erzeugenden ansieht, zur Thatsache er-
heben, wenn es feststände, dass ein jeder Gefühlsnerv nur die Orte seiner End-
verbreitung zur Empfindung bringen könnte. Da diese Annahme aber nicht bewiesen
ist, so liegt noch die andere offen, dass die Seele Empfindungen, die von anderen
Nerven erzeugt werden, auf den Magen bezieht. — Der Versuch, mittelst Nerven-
durchschneidungen ins Klare zu kommen, scheint bis dahin erfolglos geblieben zu
sein. Namentlich hat man neuerlichst übereinstimmend festgestellt, dass Thiere,
deren nn. vagi am Halse durchnitten waren, unter Umständen noch begierig die vor-
gesetzte Speise verzehrten (Reid, Longet, Bidder u. A.), und dass ebenso
Katzen nach Durchschneidung der nn. splanchnici noch frassen (Haffter, C. Lud-
wig
). Diese Beobachtungen widerlegen aber keinenfalls die Annahme, dass sich an
diese Nerven die Hungerempfindung knüpfe, da noch mannigfaltige andere und na-
mentlich psychische Gründe Veranlassung zur Aufnahme der Speisen geben können.
Diesen letzteren müsste man es allerdings Schuld geben, wenn den Thieren, wie es
Longet ausführte, neben den nn. vagi auch noch die Geschmacksnerven durchschnit-
ten sind. — Möglicher Weise ist aber der Hunger auch eine Empfindung, die sich
gleichzeitig zusammensetzt aus der Erregung der Magen- und noch vielfacher an-
derer Nerven, wie dieses Volkmann und Longet behaupten.

Die Veränderungen, welche die Säfte oder Organe, in welche die
Hungernerven eingebettet sind, erleiden müssen, um die Erregung dieser
letztern zu veranlassen, kennen wir nicht; statt dessen sind uns nur einige
ganz allgemeine Bedingungen bekannt, unter denen sie entsteht. Nament-
lich stellt sich der Hunger ein nach längeren Enthaltungen der Nahrung;
die Zeit, welche nach einer Mahlzeit verstreichen muss, bevor sich das
Bedürfniss nach einer neuen einfindet, variirt mit der Menge zuletzt auf-
genommener Nahrung und mit dem Blutverbrauch während der Enthal-
tung von derselben; so beschleunigen Muskelanstrengungen, Entleerun-
gen blutähnlicher Flüssigkeiten (Samen-, Milch-, Eiterverlust), Ablage-
rungen von Blutbestandtheilen in die Gewebe (Wachsthum, Erholungs-
stadium nach Krankheiten) den Eintritt desselben. — Ferner ist sein
Kommen abhängig von seelischen Erregungen, indem er sich einstellt zu
gewissen Tageszeiten, an denen wir gewöhnt sind zu essen; man ver-
muthet in diesem Falle die Abwesenheit von Bedingungen, die den vor-
her erwähnten ähnlich sind, weil ein solcher Hunger auch leicht wieder
verschwindet, ohne dass das Nahrungsbedürfniss durch Aufnahme von
Speise befriedigt wurde.

Man giebt auch an, dass der Genuss einiger stark schmeckender Stoffe, wie
z. B. des Pfeffers, essbarer Seethiere (Austern, Häringe) u. s. w., Hunger er-
regt (?). — Auch soll es einen pathologischen Hunger, den sog. Bulimus, geben, wor-
über Moleschott am bezeichneten Orte S. 87 um Rath zu fragen ist.

Die Stillung des Hungers kann entweder geschehen durch die Ab-
stumpfung der Erregbarkeit oder durch Entfernung der erregenden Ur-
sache. — Auf den ersteren Fall wird man schliessen, wenn das Gefühl
nach längerem Bestehen verschwindet, auch ohne dass Nahrungsmittel
aufgenommen sind, oder wenn Arzneistoffe, die die Erregbarkeit ab-

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[375/0391] Hunger. scheinlichkeitsgrunde unterstützend anschliessen, oder vielmehr die Hypothese, welche einen der Magennerven als Hunger erzeugenden ansieht, zur Thatsache er- heben, wenn es feststände, dass ein jeder Gefühlsnerv nur die Orte seiner End- verbreitung zur Empfindung bringen könnte. Da diese Annahme aber nicht bewiesen ist, so liegt noch die andere offen, dass die Seele Empfindungen, die von anderen Nerven erzeugt werden, auf den Magen bezieht. — Der Versuch, mittelst Nerven- durchschneidungen ins Klare zu kommen, scheint bis dahin erfolglos geblieben zu sein. Namentlich hat man neuerlichst übereinstimmend festgestellt, dass Thiere, deren nn. vagi am Halse durchnitten waren, unter Umständen noch begierig die vor- gesetzte Speise verzehrten (Reid, Longet, Bidder u. A.), und dass ebenso Katzen nach Durchschneidung der nn. splanchnici noch frassen (Haffter, C. Lud- wig). Diese Beobachtungen widerlegen aber keinenfalls die Annahme, dass sich an diese Nerven die Hungerempfindung knüpfe, da noch mannigfaltige andere und na- mentlich psychische Gründe Veranlassung zur Aufnahme der Speisen geben können. Diesen letzteren müsste man es allerdings Schuld geben, wenn den Thieren, wie es Longet ausführte, neben den nn. vagi auch noch die Geschmacksnerven durchschnit- ten sind. — Möglicher Weise ist aber der Hunger auch eine Empfindung, die sich gleichzeitig zusammensetzt aus der Erregung der Magen- und noch vielfacher an- derer Nerven, wie dieses Volkmann und Longet behaupten. Die Veränderungen, welche die Säfte oder Organe, in welche die Hungernerven eingebettet sind, erleiden müssen, um die Erregung dieser letztern zu veranlassen, kennen wir nicht; statt dessen sind uns nur einige ganz allgemeine Bedingungen bekannt, unter denen sie entsteht. Nament- lich stellt sich der Hunger ein nach längeren Enthaltungen der Nahrung; die Zeit, welche nach einer Mahlzeit verstreichen muss, bevor sich das Bedürfniss nach einer neuen einfindet, variirt mit der Menge zuletzt auf- genommener Nahrung und mit dem Blutverbrauch während der Enthal- tung von derselben; so beschleunigen Muskelanstrengungen, Entleerun- gen blutähnlicher Flüssigkeiten (Samen-, Milch-, Eiterverlust), Ablage- rungen von Blutbestandtheilen in die Gewebe (Wachsthum, Erholungs- stadium nach Krankheiten) den Eintritt desselben. — Ferner ist sein Kommen abhängig von seelischen Erregungen, indem er sich einstellt zu gewissen Tageszeiten, an denen wir gewöhnt sind zu essen; man ver- muthet in diesem Falle die Abwesenheit von Bedingungen, die den vor- her erwähnten ähnlich sind, weil ein solcher Hunger auch leicht wieder verschwindet, ohne dass das Nahrungsbedürfniss durch Aufnahme von Speise befriedigt wurde. Man giebt auch an, dass der Genuss einiger stark schmeckender Stoffe, wie z. B. des Pfeffers, essbarer Seethiere (Austern, Häringe) u. s. w., Hunger er- regt (?). — Auch soll es einen pathologischen Hunger, den sog. Bulimus, geben, wor- über Moleschott am bezeichneten Orte S. 87 um Rath zu fragen ist. Die Stillung des Hungers kann entweder geschehen durch die Ab- stumpfung der Erregbarkeit oder durch Entfernung der erregenden Ur- sache. — Auf den ersteren Fall wird man schliessen, wenn das Gefühl nach längerem Bestehen verschwindet, auch ohne dass Nahrungsmittel aufgenommen sind, oder wenn Arzneistoffe, die die Erregbarkeit ab-

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie02_1856/391>, abgerufen am 29.03.2024.