Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Kapitel.
Gleichgewichte sein oder nicht. Nehmen wir das
letztere an, so muss die Kette, weil sich bei ihrer Be-
wegung die Verhältnisse nicht ändern, wenn sie ein-
mal
in Bewegung ist, fortwährend in Bewegung blei-
ben, also ein Perpetuum mobile darstellen, was Stevin
absurd erscheint. Demnach ist nur der erste Fall denk-
bar. Die Kette bleibt im Gleichgewicht. Dann kann
der symmetrische Kettentheil ADC ohne Störung des
Gleichgewichtes entfernt werden. Es hält also das
Kettenstück AB dem Kettenstück BC das Gleichge-
wicht. Auf schiefen Ebenen von gleicher Höhe wirken
demnach gleiche Gewichte im umgekehrten Verhältniss
der Längen der schiefen Ebenen.

Denken wir uns in dem Prismenquerschnitt Fig. 20 AC
horizontal, BC vertical und AB=2BC, ferner die den
Längen proportionalen Kettengewichte auf AB und BC
Q und P, so folgt [Formel 1] . Die Verallgemei-
nerung ist selbstverständlich.

2. In der Annahme, von welcher Stevin ausgeht, dass
die geschlossene Kette sich nicht bewegt, liegt ohne
Frage zunächst nur eine ganz instinctive Erkennt-
niss. Er fühlt sofort, und wir mit ihm, dass wir etwas
einer derartigen Bewegung Aehnliches nie beobachtet,
nie gesehen haben, dass dergleichen nicht vorkommt.
Diese Ueberzeugung hat eine solche logische Gewalt,
dass wir die hieraus gezogene Folgerung über das
Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene ohne Wider-
rede annehmen, während uns das Gesetz als blosses
Ergebniss des Versuches oder auf eine andere Art dar-
gelegt zweifelhaft erscheinen würde. Dies kann uns
nicht befremden, wenn wir bedenken, dass jedes Versuchs-
ergebniss durch fremdartige Umstände (Reibung) getrübt,
und jede Vermuthung über die maassgebenden Umstände
dem Irrthum ausgesetzt ist. Dass Stevin einer solchen
instinctiven Erkenntniss eine höhere Autorität zuer-
kennt als seiner einfachen klaren directen Beobachtung,
könnte uns in Verwunderung versetzen, wenn wir selbst

Erstes Kapitel.
Gleichgewichte sein oder nicht. Nehmen wir das
letztere an, so muss die Kette, weil sich bei ihrer Be-
wegung die Verhältnisse nicht ändern, wenn sie ein-
mal
in Bewegung ist, fortwährend in Bewegung blei-
ben, also ein Perpetuum mobile darstellen, was Stevin
absurd erscheint. Demnach ist nur der erste Fall denk-
bar. Die Kette bleibt im Gleichgewicht. Dann kann
der symmetrische Kettentheil ADC ohne Störung des
Gleichgewichtes entfernt werden. Es hält also das
Kettenstück AB dem Kettenstück BC das Gleichge-
wicht. Auf schiefen Ebenen von gleicher Höhe wirken
demnach gleiche Gewichte im umgekehrten Verhältniss
der Längen der schiefen Ebenen.

Denken wir uns in dem Prismenquerschnitt Fig. 20 AC
horizontal, BC vertical und AB=2BC, ferner die den
Längen proportionalen Kettengewichte auf AB und BC
Q und P, so folgt [Formel 1] . Die Verallgemei-
nerung ist selbstverständlich.

2. In der Annahme, von welcher Stevin ausgeht, dass
die geschlossene Kette sich nicht bewegt, liegt ohne
Frage zunächst nur eine ganz instinctive Erkennt-
niss. Er fühlt sofort, und wir mit ihm, dass wir etwas
einer derartigen Bewegung Aehnliches nie beobachtet,
nie gesehen haben, dass dergleichen nicht vorkommt.
Diese Ueberzeugung hat eine solche logische Gewalt,
dass wir die hieraus gezogene Folgerung über das
Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene ohne Wider-
rede annehmen, während uns das Gesetz als blosses
Ergebniss des Versuches oder auf eine andere Art dar-
gelegt zweifelhaft erscheinen würde. Dies kann uns
nicht befremden, wenn wir bedenken, dass jedes Versuchs-
ergebniss durch fremdartige Umstände (Reibung) getrübt,
und jede Vermuthung über die maassgebenden Umstände
dem Irrthum ausgesetzt ist. Dass Stevin einer solchen
instinctiven Erkenntniss eine höhere Autorität zuer-
kennt als seiner einfachen klaren directen Beobachtung,
könnte uns in Verwunderung versetzen, wenn wir selbst

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0036" n="24"/><fw place="top" type="header">Erstes Kapitel.</fw><lb/>
Gleichgewichte sein oder nicht. Nehmen wir das<lb/>
letztere an, so muss die Kette, weil sich bei ihrer Be-<lb/>
wegung die Verhältnisse nicht ändern, wenn sie <hi rendition="#g">ein-<lb/>
mal</hi> in Bewegung ist, fortwährend in Bewegung blei-<lb/>
ben, also ein Perpetuum mobile darstellen, was Stevin<lb/>
absurd erscheint. Demnach ist nur der erste Fall denk-<lb/>
bar. Die Kette bleibt im Gleichgewicht. Dann kann<lb/>
der symmetrische Kettentheil <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">ADC</hi></hi> ohne Störung des<lb/>
Gleichgewichtes entfernt werden. Es hält also das<lb/>
Kettenstück <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">AB</hi></hi> dem Kettenstück <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">BC</hi></hi> das Gleichge-<lb/>
wicht. Auf schiefen Ebenen von gleicher Höhe wirken<lb/>
demnach gleiche Gewichte im umgekehrten Verhältniss<lb/>
der Längen der schiefen Ebenen.</p><lb/>
          <p>Denken wir uns in dem Prismenquerschnitt Fig. 20 <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">AC</hi></hi><lb/>
horizontal, <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">BC</hi></hi> vertical und <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">AB</hi>=2<hi rendition="#i">BC</hi></hi>, ferner die den<lb/>
Längen proportionalen Kettengewichte auf <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">AB</hi></hi> und <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">BC</hi></hi><lb/><hi rendition="#i">Q</hi> und <hi rendition="#i">P</hi>, so folgt <formula/>. Die Verallgemei-<lb/>
nerung ist selbstverständlich.</p><lb/>
          <p>2. In der Annahme, von welcher Stevin ausgeht, dass<lb/>
die geschlossene Kette sich nicht bewegt, liegt ohne<lb/>
Frage zunächst nur eine <hi rendition="#g">ganz instinctive</hi> Erkennt-<lb/>
niss. Er fühlt sofort, und wir mit ihm, dass wir etwas<lb/>
einer derartigen Bewegung Aehnliches nie beobachtet,<lb/>
nie gesehen haben, dass dergleichen nicht vorkommt.<lb/>
Diese Ueberzeugung hat eine solche <hi rendition="#g">logische Gewalt</hi>,<lb/>
dass wir die hieraus gezogene Folgerung über das<lb/>
Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene ohne Wider-<lb/>
rede annehmen, während uns das Gesetz als blosses<lb/>
Ergebniss des Versuches oder auf eine andere Art dar-<lb/>
gelegt zweifelhaft erscheinen würde. Dies kann uns<lb/>
nicht befremden, wenn wir bedenken, dass jedes Versuchs-<lb/>
ergebniss durch fremdartige Umstände (Reibung) getrübt,<lb/>
und jede Vermuthung über die maassgebenden Umstände<lb/>
dem Irrthum ausgesetzt ist. Dass Stevin einer solchen<lb/>
instinctiven Erkenntniss eine höhere Autorität zuer-<lb/>
kennt als seiner einfachen klaren directen Beobachtung,<lb/>
könnte uns in Verwunderung versetzen, wenn wir selbst<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0036] Erstes Kapitel. Gleichgewichte sein oder nicht. Nehmen wir das letztere an, so muss die Kette, weil sich bei ihrer Be- wegung die Verhältnisse nicht ändern, wenn sie ein- mal in Bewegung ist, fortwährend in Bewegung blei- ben, also ein Perpetuum mobile darstellen, was Stevin absurd erscheint. Demnach ist nur der erste Fall denk- bar. Die Kette bleibt im Gleichgewicht. Dann kann der symmetrische Kettentheil ADC ohne Störung des Gleichgewichtes entfernt werden. Es hält also das Kettenstück AB dem Kettenstück BC das Gleichge- wicht. Auf schiefen Ebenen von gleicher Höhe wirken demnach gleiche Gewichte im umgekehrten Verhältniss der Längen der schiefen Ebenen. Denken wir uns in dem Prismenquerschnitt Fig. 20 AC horizontal, BC vertical und AB=2BC, ferner die den Längen proportionalen Kettengewichte auf AB und BC Q und P, so folgt [FORMEL]. Die Verallgemei- nerung ist selbstverständlich. 2. In der Annahme, von welcher Stevin ausgeht, dass die geschlossene Kette sich nicht bewegt, liegt ohne Frage zunächst nur eine ganz instinctive Erkennt- niss. Er fühlt sofort, und wir mit ihm, dass wir etwas einer derartigen Bewegung Aehnliches nie beobachtet, nie gesehen haben, dass dergleichen nicht vorkommt. Diese Ueberzeugung hat eine solche logische Gewalt, dass wir die hieraus gezogene Folgerung über das Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene ohne Wider- rede annehmen, während uns das Gesetz als blosses Ergebniss des Versuches oder auf eine andere Art dar- gelegt zweifelhaft erscheinen würde. Dies kann uns nicht befremden, wenn wir bedenken, dass jedes Versuchs- ergebniss durch fremdartige Umstände (Reibung) getrübt, und jede Vermuthung über die maassgebenden Umstände dem Irrthum ausgesetzt ist. Dass Stevin einer solchen instinctiven Erkenntniss eine höhere Autorität zuer- kennt als seiner einfachen klaren directen Beobachtung, könnte uns in Verwunderung versetzen, wenn wir selbst

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/36
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/36>, abgerufen am 28.03.2024.