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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796.

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Zweytes Buch. Zweytes Hauptstück.
§. 46.
Die Erfüllung des Vertrags muß möglich seyn.

Der gültig geschloßene Vertrag muß auch verbind-
lich, das ist, seine Erfüllung muß physisch und moralisch mög-
lich seyn. Wenn daher 1) dessen Erfüllung entweder nach
der Natur des Versprechens (welches in Verträgen ver-
nünftiger Völker nicht leicht zu erwarten ist) oder nach den
eingetretenen Umständen physisch unmöglich ist, so kann eine
Nation nicht zu dessen Erfüllung, wohl aber dann zur Ent-
schädigung aufgefordert werden, wenn sie diese Unmöglich-
keit voraus gewust, oder nachher veranlasset hat. Eben so
wenig kann 2) ein Vertrag verbindlich seyn, dessen Erfül-
lung die Rechte eines dritten kränken würde a). Daß eine
Nation einen Vertrag unerfüllt lassen könne, dessen Erfüllung
ihren Untergang nach sich ziehn würde, wird richtiger aus
den Regeln des Nothrechts, als aus der falschen Idee erklä-
ret, daß der Regent der den Vertrag schließt und das Volk
das ihn erfüllen soll zwey von einander getrennte Perso-
nen seyn von denen die eine nichts zum Schaden der an-
dren versprechen könne b). Eben daher berechtiget auch
nicht jeder Nachtheil den die Erfüllung eines Staatsver-
trags nach sich zieht, von selbigem abzugehn.

a) Wenn daher eine Nation zweien Völkern etwas versprochen hat
was sie nur einem halten kann, so geht der ältere Vertrag dem
jüngeren vor; denn was sie kraft des älteren versprochen hatte
war nicht mehr unter ihrer Disposition. Dieß schützte Frankreich
vor als es nach dem Tode Carls VI. seine angeblich ältere Allianz
mit Baiern der übernommenen Garantie der pragmatischen
Sanction vorzog. Eben daher konnten die Türken im Frieden
von 1774 der Kaiserinn von Rußland nicht verbindlich verspre-
chen, daß ihr Gesandter den Rang unmittelbar nach dem des
römischen Kaisers vor allen andren haben solle, da sie diese
Stelle schon kraft des Vertrags von 1604. art. 20. 27. 1673.
art. 10. 1740. art.
1. dem französischen Gesandten eingeräumt
hatten. Aus eben diesem Grundsatze ist auch eine Veräußerung
einer Sache die einem dritten gehöret nach dem Völkerrecht so
wenig als nach dem Naturrecht gültig; aber zur Entschädigung
Zweytes Buch. Zweytes Hauptſtuͤck.
§. 46.
Die Erfuͤllung des Vertrags muß moͤglich ſeyn.

Der guͤltig geſchloßene Vertrag muß auch verbind-
lich, das iſt, ſeine Erfuͤllung muß phyſiſch und moraliſch moͤg-
lich ſeyn. Wenn daher 1) deſſen Erfuͤllung entweder nach
der Natur des Verſprechens (welches in Vertraͤgen ver-
nuͤnftiger Voͤlker nicht leicht zu erwarten iſt) oder nach den
eingetretenen Umſtaͤnden phyſiſch unmoͤglich iſt, ſo kann eine
Nation nicht zu deſſen Erfuͤllung, wohl aber dann zur Ent-
ſchaͤdigung aufgefordert werden, wenn ſie dieſe Unmoͤglich-
keit voraus gewuſt, oder nachher veranlaſſet hat. Eben ſo
wenig kann 2) ein Vertrag verbindlich ſeyn, deſſen Erfuͤl-
lung die Rechte eines dritten kraͤnken wuͤrde a). Daß eine
Nation einen Vertrag unerfuͤllt laſſen koͤnne, deſſen Erfuͤllung
ihren Untergang nach ſich ziehn wuͤrde, wird richtiger aus
den Regeln des Nothrechts, als aus der falſchen Idee erklaͤ-
ret, daß der Regent der den Vertrag ſchließt und das Volk
das ihn erfuͤllen ſoll zwey von einander getrennte Perſo-
nen ſeyn von denen die eine nichts zum Schaden der an-
dren verſprechen koͤnne b). Eben daher berechtiget auch
nicht jeder Nachtheil den die Erfuͤllung eines Staatsver-
trags nach ſich zieht, von ſelbigem abzugehn.

a) Wenn daher eine Nation zweien Voͤlkern etwas verſprochen hat
was ſie nur einem halten kann, ſo geht der aͤltere Vertrag dem
juͤngeren vor; denn was ſie kraft des aͤlteren verſprochen hatte
war nicht mehr unter ihrer Diſpoſition. Dieß ſchuͤtzte Frankreich
vor als es nach dem Tode Carls VI. ſeine angeblich aͤltere Allianz
mit Baiern der uͤbernommenen Garantie der pragmatiſchen
Sanction vorzog. Eben daher konnten die Tuͤrken im Frieden
von 1774 der Kaiſerinn von Rußland nicht verbindlich verſpre-
chen, daß ihr Geſandter den Rang unmittelbar nach dem des
roͤmiſchen Kaiſers vor allen andren haben ſolle, da ſie dieſe
Stelle ſchon kraft des Vertrags von 1604. art. 20. 27. 1673.
art. 10. 1740. art.
1. dem franzoͤſiſchen Geſandten eingeraͤumt
hatten. Aus eben dieſem Grundſatze iſt auch eine Veraͤußerung
einer Sache die einem dritten gehoͤret nach dem Voͤlkerrecht ſo
wenig als nach dem Naturrecht guͤltig; aber zur Entſchaͤdigung
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[58/0086] Zweytes Buch. Zweytes Hauptſtuͤck. §. 46. Die Erfuͤllung des Vertrags muß moͤglich ſeyn. Der guͤltig geſchloßene Vertrag muß auch verbind- lich, das iſt, ſeine Erfuͤllung muß phyſiſch und moraliſch moͤg- lich ſeyn. Wenn daher 1) deſſen Erfuͤllung entweder nach der Natur des Verſprechens (welches in Vertraͤgen ver- nuͤnftiger Voͤlker nicht leicht zu erwarten iſt) oder nach den eingetretenen Umſtaͤnden phyſiſch unmoͤglich iſt, ſo kann eine Nation nicht zu deſſen Erfuͤllung, wohl aber dann zur Ent- ſchaͤdigung aufgefordert werden, wenn ſie dieſe Unmoͤglich- keit voraus gewuſt, oder nachher veranlaſſet hat. Eben ſo wenig kann 2) ein Vertrag verbindlich ſeyn, deſſen Erfuͤl- lung die Rechte eines dritten kraͤnken wuͤrde a). Daß eine Nation einen Vertrag unerfuͤllt laſſen koͤnne, deſſen Erfuͤllung ihren Untergang nach ſich ziehn wuͤrde, wird richtiger aus den Regeln des Nothrechts, als aus der falſchen Idee erklaͤ- ret, daß der Regent der den Vertrag ſchließt und das Volk das ihn erfuͤllen ſoll zwey von einander getrennte Perſo- nen ſeyn von denen die eine nichts zum Schaden der an- dren verſprechen koͤnne b). Eben daher berechtiget auch nicht jeder Nachtheil den die Erfuͤllung eines Staatsver- trags nach ſich zieht, von ſelbigem abzugehn. a⁾ Wenn daher eine Nation zweien Voͤlkern etwas verſprochen hat was ſie nur einem halten kann, ſo geht der aͤltere Vertrag dem juͤngeren vor; denn was ſie kraft des aͤlteren verſprochen hatte war nicht mehr unter ihrer Diſpoſition. Dieß ſchuͤtzte Frankreich vor als es nach dem Tode Carls VI. ſeine angeblich aͤltere Allianz mit Baiern der uͤbernommenen Garantie der pragmatiſchen Sanction vorzog. Eben daher konnten die Tuͤrken im Frieden von 1774 der Kaiſerinn von Rußland nicht verbindlich verſpre- chen, daß ihr Geſandter den Rang unmittelbar nach dem des roͤmiſchen Kaiſers vor allen andren haben ſolle, da ſie dieſe Stelle ſchon kraft des Vertrags von 1604. art. 20. 27. 1673. art. 10. 1740. art. 1. dem franzoͤſiſchen Geſandten eingeraͤumt hatten. Aus eben dieſem Grundſatze iſt auch eine Veraͤußerung einer Sache die einem dritten gehoͤret nach dem Voͤlkerrecht ſo wenig als nach dem Naturrecht guͤltig; aber zur Entſchaͤdigung kann

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Zitationshilfe: Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/86>, abgerufen am 25.04.2024.