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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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tsässigen" entschließen, reale und praktische Bildung neben ihrer
alleinseligmachenden als gleichberechtigt gelten zu lassen. Diese
Schriftsässigenbildung ist nun noch so schön an jeder Etappe
des Bildungsweges öffentlich durch Examina abgestempelt,
durch die, wie die Erfahrung lehrt, der Schafskopf, der das
skrupellose Ochsen versteht, oft glatter schlüpft, als die selb-
ständige Natur, der alles Wissen nur Unterlage zum eignen
Denken wird. Sicherlich bedarf es auch gegenüber dieser ganz
unfreien geistigen Bildung, die mit den Kampfbedingungen
des öffentlichen Lebens allzusehr rechnet, nur geeigneter, kraft-
voller Persönlichkeiten, um alle eingeschlossenen Werte zu le-
bendiger Blüte und Frucht zu bringen. Daß sie aber leider
auch das geeignete Element ist für aalglattes und skrupelloses
Strebertum, das sich aus ihr nur die geistigen Hülsen und
nicht die sittlichen Lebenswerte holt, das die unbedingte Sub-
ordination, die die äußere Staatsordnung beherrschen muß,
ohne Bedenken auf das flutende, ihm ganz fremde innere Le-
ben überträgt, sich im äußern Enthusiasmus erschöpft und aus
jedem Ideal ein goldnes Kalb zu formen weiß, und daß diese
inferioren "gesinnungstüchtigen" Herdenmenschen die wahre
höhere Bildung stets gegen Einbrüche eines ihnen fremdartigen
Geistes schützen möchten, das ist leicht erkennbar. War die höhere
Bildung einmal unfrei geworden als Berechtigungsmittel, so
war ihr Abschluß gegen Unberechtigte und -- Frauen selbst-
verständlich. Entweder kann "höhere" und höchste Bildung
nur frei wie ein Paradiesesstrom durch ein Volk rauschen,
jedem zugänglich, der Durst hat und trinken will; oder sie
wird eingeschlossen und mit flammendem Schwert verteidigt
gegen jeden, der nicht zu den Privilegierten gehört und das
Machtmittel nicht benutzen soll. Wir Deutschen, wir neigen
zu der letzteren Form der Bildung, und wir werden nächstens
den traurigen Ruhm erleben, uns dadurch von allen andern
Kulturvölkern, besonders in der Berechtigung der Frau auf
die Bildungsgüter des Volkes, zu unterscheiden.

tsässigen“ entschließen, reale und praktische Bildung neben ihrer
alleinseligmachenden als gleichberechtigt gelten zu lassen. Diese
Schriftsässigenbildung ist nun noch so schön an jeder Etappe
des Bildungsweges öffentlich durch Examina abgestempelt,
durch die, wie die Erfahrung lehrt, der Schafskopf, der das
skrupellose Ochsen versteht, oft glatter schlüpft, als die selb-
ständige Natur, der alles Wissen nur Unterlage zum eignen
Denken wird. Sicherlich bedarf es auch gegenüber dieser ganz
unfreien geistigen Bildung, die mit den Kampfbedingungen
des öffentlichen Lebens allzusehr rechnet, nur geeigneter, kraft-
voller Persönlichkeiten, um alle eingeschlossenen Werte zu le-
bendiger Blüte und Frucht zu bringen. Daß sie aber leider
auch das geeignete Element ist für aalglattes und skrupelloses
Strebertum, das sich aus ihr nur die geistigen Hülsen und
nicht die sittlichen Lebenswerte holt, das die unbedingte Sub-
ordination, die die äußere Staatsordnung beherrschen muß,
ohne Bedenken auf das flutende, ihm ganz fremde innere Le-
ben überträgt, sich im äußern Enthusiasmus erschöpft und aus
jedem Ideal ein goldnes Kalb zu formen weiß, und daß diese
inferioren „gesinnungstüchtigen“ Herdenmenschen die wahre
höhere Bildung stets gegen Einbrüche eines ihnen fremdartigen
Geistes schützen möchten, das ist leicht erkennbar. War die höhere
Bildung einmal unfrei geworden als Berechtigungsmittel, so
war ihr Abschluß gegen Unberechtigte und — Frauen selbst-
verständlich. Entweder kann „höhere“ und höchste Bildung
nur frei wie ein Paradiesesstrom durch ein Volk rauschen,
jedem zugänglich, der Durst hat und trinken will; oder sie
wird eingeschlossen und mit flammendem Schwert verteidigt
gegen jeden, der nicht zu den Privilegierten gehört und das
Machtmittel nicht benutzen soll. Wir Deutschen, wir neigen
zu der letzteren Form der Bildung, und wir werden nächstens
den traurigen Ruhm erleben, uns dadurch von allen andern
Kulturvölkern, besonders in der Berechtigung der Frau auf
die Bildungsgüter des Volkes, zu unterscheiden.

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[13/0016] tsässigen“ entschließen, reale und praktische Bildung neben ihrer alleinseligmachenden als gleichberechtigt gelten zu lassen. Diese Schriftsässigenbildung ist nun noch so schön an jeder Etappe des Bildungsweges öffentlich durch Examina abgestempelt, durch die, wie die Erfahrung lehrt, der Schafskopf, der das skrupellose Ochsen versteht, oft glatter schlüpft, als die selb- ständige Natur, der alles Wissen nur Unterlage zum eignen Denken wird. Sicherlich bedarf es auch gegenüber dieser ganz unfreien geistigen Bildung, die mit den Kampfbedingungen des öffentlichen Lebens allzusehr rechnet, nur geeigneter, kraft- voller Persönlichkeiten, um alle eingeschlossenen Werte zu le- bendiger Blüte und Frucht zu bringen. Daß sie aber leider auch das geeignete Element ist für aalglattes und skrupelloses Strebertum, das sich aus ihr nur die geistigen Hülsen und nicht die sittlichen Lebenswerte holt, das die unbedingte Sub- ordination, die die äußere Staatsordnung beherrschen muß, ohne Bedenken auf das flutende, ihm ganz fremde innere Le- ben überträgt, sich im äußern Enthusiasmus erschöpft und aus jedem Ideal ein goldnes Kalb zu formen weiß, und daß diese inferioren „gesinnungstüchtigen“ Herdenmenschen die wahre höhere Bildung stets gegen Einbrüche eines ihnen fremdartigen Geistes schützen möchten, das ist leicht erkennbar. War die höhere Bildung einmal unfrei geworden als Berechtigungsmittel, so war ihr Abschluß gegen Unberechtigte und — Frauen selbst- verständlich. Entweder kann „höhere“ und höchste Bildung nur frei wie ein Paradiesesstrom durch ein Volk rauschen, jedem zugänglich, der Durst hat und trinken will; oder sie wird eingeschlossen und mit flammendem Schwert verteidigt gegen jeden, der nicht zu den Privilegierten gehört und das Machtmittel nicht benutzen soll. Wir Deutschen, wir neigen zu der letzteren Form der Bildung, und wir werden nächstens den traurigen Ruhm erleben, uns dadurch von allen andern Kulturvölkern, besonders in der Berechtigung der Frau auf die Bildungsgüter des Volkes, zu unterscheiden.

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/16>, abgerufen am 19.04.2024.