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Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867.

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in der That um Spitzfindigkeiten, aber nur so wie es sich
in der mikrologischen Anatomie darum handelt.

Mit Ausnahme des Abschnitts über die Werthform wird
man daher diess Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit ankla-
gen können. Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues
lernen, also auch selbst denken wollen.

Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo
sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen min-
dest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente
unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses
sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die
kapitalistische Produktionsweise und die ihr ent-
sprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse.
Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Diess der Grund,
warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung
dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln
zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Acker-
bauarbeiter, oder sich optimistisch dabei beruhigen, dass in
Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so
muss ich ihm zurufen: De te fabula narratur!

An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder
niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonis-
men, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produk-
tion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst,
um diese mit eherner Nothwendigkeit wirkenden und sich durch-
setzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land
zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft!

Aber abgesehn hiervon. Wo die kapitalistische Produktion
völlig bei uns eingebürgert ist, z. B. in den eigentlichen Fabri-
ken, sind die Zustände viel schlechter als in England, weil
das Gegengewicht der Fabrikgesetze fehlt. In allen andren
Sphären quält uns, gleich dem ganzen übrigen kontinentalen
Westeuropa, nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Pro-
duktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung. Neben
den modernen Nothständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter
Nothstände, entspringend aus der Fortvegetation alterthümlicher,

in der That um Spitzfindigkeiten, aber nur so wie es sich
in der mikrologischen Anatomie darum handelt.

Mit Ausnahme des Abschnitts über die Werthform wird
man daher diess Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit ankla-
gen können. Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues
lernen, also auch selbst denken wollen.

Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo
sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen min-
dest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente
unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses
sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die
kapitalistische Produktionsweise und die ihr ent-
sprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse.
Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Diess der Grund,
warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung
dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln
zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Acker-
bauarbeiter, oder sich optimistisch dabei beruhigen, dass in
Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so
muss ich ihm zurufen: De te fabula narratur!

An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder
niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonis-
men, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produk-
tion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst,
um diese mit eherner Nothwendigkeit wirkenden und sich durch-
setzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land
zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft!

Aber abgesehn hiervon. Wo die kapitalistische Produktion
völlig bei uns eingebürgert ist, z. B. in den eigentlichen Fabri-
ken, sind die Zustände viel schlechter als in England, weil
das Gegengewicht der Fabrikgesetze fehlt. In allen andren
Sphären quält uns, gleich dem ganzen übrigen kontinentalen
Westeuropa, nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Pro-
duktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung. Neben
den modernen Nothständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter
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[IX/0016] in der That um Spitzfindigkeiten, aber nur so wie es sich in der mikrologischen Anatomie darum handelt. Mit Ausnahme des Abschnitts über die Werthform wird man daher diess Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit ankla- gen können. Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen. Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen min- dest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr ent- sprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Diess der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Acker- bauarbeiter, oder sich optimistisch dabei beruhigen, dass in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muss ich ihm zurufen: De te fabula narratur! An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonis- men, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produk- tion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Nothwendigkeit wirkenden und sich durch- setzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft! Aber abgesehn hiervon. Wo die kapitalistische Produktion völlig bei uns eingebürgert ist, z. B. in den eigentlichen Fabri- ken, sind die Zustände viel schlechter als in England, weil das Gegengewicht der Fabrikgesetze fehlt. In allen andren Sphären quält uns, gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Pro- duktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung. Neben den modernen Nothständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Nothstände, entspringend aus der Fortvegetation alterthümlicher,

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Zitationshilfe: Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/16>, abgerufen am 19.04.2024.