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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 1.
Der Begriff der Verwaltung.

Die Lehre vom Verwaltungsrecht findet ihren Gegenstand am
Staate. Der Staat kommt aber für die Rechtsordnung nach verschie-
denen Richtungen in Betracht. Der Begriff der Verwaltung bezeichnet
die Seite, von der er uns angeht.

I. Der Staat ist das handlungsfähige Gemeinwesen, zu welchem
ein Volk unter einer obersten Gewalt, der Staatsgewalt, zusammen-
gefasst ist. Die Verwaltung ist Thätigkeit des Staates zur Ver-
wirklichung seiner Zwecke. Sie bildet als solche den Gegensatz zur
Verfassung, welche den Staat erst fertig stellt, damit er thätig
werden könne.

Verfassung ist die Ordnung, nach welcher das Volk abgegrenzt
und die oberste Gewalt gebildet ist. Der Begriff der Verfassung
hat aber, wie alle anderen, die uns hier beschäftigen, im Ver-
lauf der geschichtlichen Entwicklung eine besondere Zuthat erhalten.
Man nennt jetzt diese Ordnung nur dann Verfassung, wenn sie einer
Volksvertretung Anteil giebt an der Staatsgewalt durch Mitwirkung
bei der Gesetzgebung1. Ein also eingerichteter Staat heisst ein Ver-
fassungsstaat,
und der Inbegriff der Regeln, nach welchen er
eingerichtet ist, heisst Verfassungsrecht. Wir werden sehen,

1 v. Sarwey, Allg. V.R. S. 17; Zachariae, Vierzig Bücher v. St. III. S. 1.
Zwischen Friedrich dem Grossen, der noch ruhig von "seiner Verfassung" spricht
(Preuss, Urkundenbuch I S. 124), und Frau v. Stael, welche dem Kaiser von Russ-
land die Schmeichelei macht: er sei "die Verfassung seines Reiches", in dem Ge-
danken, dass dieses Reich eigentlich keine Verfassung habe, liegt deutlich erkennbar
der Markstein der Erklärung der Menschenrechte von 1789. In Art. 16 wird da
einfach verfügt: ein Volk, das nicht so geordnet ist, dass die Volksvertretung an
Gesetzgebung u. s. w. beteiligt wäre, "n' a point de constitution".
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§ 1.
Der Begriff der Verwaltung.

Die Lehre vom Verwaltungsrecht findet ihren Gegenstand am
Staate. Der Staat kommt aber für die Rechtsordnung nach verschie-
denen Richtungen in Betracht. Der Begriff der Verwaltung bezeichnet
die Seite, von der er uns angeht.

I. Der Staat ist das handlungsfähige Gemeinwesen, zu welchem
ein Volk unter einer obersten Gewalt, der Staatsgewalt, zusammen-
gefaſst ist. Die Verwaltung ist Thätigkeit des Staates zur Ver-
wirklichung seiner Zwecke. Sie bildet als solche den Gegensatz zur
Verfassung, welche den Staat erst fertig stellt, damit er thätig
werden könne.

Verfassung ist die Ordnung, nach welcher das Volk abgegrenzt
und die oberste Gewalt gebildet ist. Der Begriff der Verfassung
hat aber, wie alle anderen, die uns hier beschäftigen, im Ver-
lauf der geschichtlichen Entwicklung eine besondere Zuthat erhalten.
Man nennt jetzt diese Ordnung nur dann Verfassung, wenn sie einer
Volksvertretung Anteil giebt an der Staatsgewalt durch Mitwirkung
bei der Gesetzgebung1. Ein also eingerichteter Staat heiſst ein Ver-
fassungsstaat,
und der Inbegriff der Regeln, nach welchen er
eingerichtet ist, heiſst Verfassungsrecht. Wir werden sehen,

1 v. Sarwey, Allg. V.R. S. 17; Zachariae, Vierzig Bücher v. St. III. S. 1.
Zwischen Friedrich dem Groſsen, der noch ruhig von „seiner Verfassung“ spricht
(Preuſs, Urkundenbuch I S. 124), und Frau v. Staël, welche dem Kaiser von Ruſs-
land die Schmeichelei macht: er sei „die Verfassung seines Reiches“, in dem Ge-
danken, daſs dieses Reich eigentlich keine Verfassung habe, liegt deutlich erkennbar
der Markstein der Erklärung der Menschenrechte von 1789. In Art. 16 wird da
einfach verfügt: ein Volk, das nicht so geordnet ist, daſs die Volksvertretung an
Gesetzgebung u. s. w. beteiligt wäre, „n’ a point de constitution“.
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[[3]/0023] § 1. Der Begriff der Verwaltung. Die Lehre vom Verwaltungsrecht findet ihren Gegenstand am Staate. Der Staat kommt aber für die Rechtsordnung nach verschie- denen Richtungen in Betracht. Der Begriff der Verwaltung bezeichnet die Seite, von der er uns angeht. I. Der Staat ist das handlungsfähige Gemeinwesen, zu welchem ein Volk unter einer obersten Gewalt, der Staatsgewalt, zusammen- gefaſst ist. Die Verwaltung ist Thätigkeit des Staates zur Ver- wirklichung seiner Zwecke. Sie bildet als solche den Gegensatz zur Verfassung, welche den Staat erst fertig stellt, damit er thätig werden könne. Verfassung ist die Ordnung, nach welcher das Volk abgegrenzt und die oberste Gewalt gebildet ist. Der Begriff der Verfassung hat aber, wie alle anderen, die uns hier beschäftigen, im Ver- lauf der geschichtlichen Entwicklung eine besondere Zuthat erhalten. Man nennt jetzt diese Ordnung nur dann Verfassung, wenn sie einer Volksvertretung Anteil giebt an der Staatsgewalt durch Mitwirkung bei der Gesetzgebung 1. Ein also eingerichteter Staat heiſst ein Ver- fassungsstaat, und der Inbegriff der Regeln, nach welchen er eingerichtet ist, heiſst Verfassungsrecht. Wir werden sehen, 1 v. Sarwey, Allg. V.R. S. 17; Zachariae, Vierzig Bücher v. St. III. S. 1. Zwischen Friedrich dem Groſsen, der noch ruhig von „seiner Verfassung“ spricht (Preuſs, Urkundenbuch I S. 124), und Frau v. Staël, welche dem Kaiser von Ruſs- land die Schmeichelei macht: er sei „die Verfassung seines Reiches“, in dem Ge- danken, daſs dieses Reich eigentlich keine Verfassung habe, liegt deutlich erkennbar der Markstein der Erklärung der Menschenrechte von 1789. In Art. 16 wird da einfach verfügt: ein Volk, das nicht so geordnet ist, daſs die Volksvertretung an Gesetzgebung u. s. w. beteiligt wäre, „n’ a point de constitution“. 1*

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/23>, abgerufen am 18.04.2024.