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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Geschichtliche Entwicklungsstufen.
§ 4.
Der Polizeistaat.

Wenn schon geraume Zeit vor dem gänzlichen Zusammenbruch
der Reichsgerichtsbarkeit die öffentliche Gewalt überall die alten
Rechtsschranken zu überfluten suchte, so geschah es unter dem An-
trieb mächtiger neuer Ideen, neuer Aufgaben, die sie sich stellte.
Die Polizei, welche dem Ganzen den Stempel giebt, wird zu einer
planmässigen Bearbeitung des zur Verfügung stehenden Menschen-
materials, um es einem grossen Ziele entgegenzuführen, Das Ziel ist
die Macht und Grösse des Gemeinwesens1. Die Staatsidee tritt in den
Vordergrund; nicht für sich und zur Geltendmachung eines ihm zu-
stehenden Hoheitsrechtes nimmt der Fürst das alles in Anspruch,
sondern im Namen des idealen Rechtssubjektes, das er vertritt2. Neben
der Verneinung der bisherigen Formen entwickeln sich aber auch
schon wieder neue Ordnungen, die hinüber leiten zu dem Rechte der
Gegenwart.

I. Die schrankenlos gewordene öffentliche Gewalt wird ausgeübt
durch den Fürsten selbst und unter ihm in seinem Namen und damit
zugleich im Namen des Staats durch verschiedenartiges Beamtentum.
Der Machtanteil, der jedem zukommt, bestimmt sich wie folgt.

1. Der Fürst ist der eigentliche Träger der ungeheuren Auf-
gabe der Verfolgung des Staatszweckes. Wäre es nach Menschennatur
möglich, so würde er alles allein thun. So aber bleibt wenigstens
dr Grundsatz bestehen, dass kein Gegenstand staatlicher Verwaltung
seiner unmittelbaren Thätigkeit entzogen ist. Wichtigere Dinge sind
ihm vorbehalten, minder wichtiger bemächtigt er sich, wie sie gerade
seine Aufmerksamkeit erregen3.

1 Christian v. Wolff (1679--1754) gilt als der "offizielle Staatsphilosoph"
Friedrichs des Grossen. Seine hier einschlagenden Werke: Jus naturae (9 Bde.
1740--1748) und: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen
und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des
menschlichen Geschlechts (4. Aufl. 1736) sind mit ihrer ganzen Süsslichkeit von
der Art des Preussischen Staatswesens weit genug entfernt. Der wahre Prophet
der neuen Verwaltung, namentlich der preussischen, ist Justi, Grundsätze der
Polizeiwissenschaft, 1756, wo schon in der Vorrede ein bewusster Gegensatz zu
Wolffs Verflachungen betont wird.
2 Die berühmten Aussprüche: L'etat c'est moi (Ludwig XIV) und "Der König
ist der erste Diener des Staates" (Friedrich der Grosse) sind in diesem Sinne ju-
ristisch gleichwertig.
3 Es ist bekannt, welch lebhaften Anteil Friedrich der Grosse an der Polizei-
verwaltung seiner Residenzstadt Potsdam genommen hat. Preuss, Urkundenbuch
Geschichtliche Entwicklungsstufen.
§ 4.
Der Polizeistaat.

Wenn schon geraume Zeit vor dem gänzlichen Zusammenbruch
der Reichsgerichtsbarkeit die öffentliche Gewalt überall die alten
Rechtsschranken zu überfluten suchte, so geschah es unter dem An-
trieb mächtiger neuer Ideen, neuer Aufgaben, die sie sich stellte.
Die Polizei, welche dem Ganzen den Stempel giebt, wird zu einer
planmäſsigen Bearbeitung des zur Verfügung stehenden Menschen-
materials, um es einem groſsen Ziele entgegenzuführen, Das Ziel ist
die Macht und Gröſse des Gemeinwesens1. Die Staatsidee tritt in den
Vordergrund; nicht für sich und zur Geltendmachung eines ihm zu-
stehenden Hoheitsrechtes nimmt der Fürst das alles in Anspruch,
sondern im Namen des idealen Rechtssubjektes, das er vertritt2. Neben
der Verneinung der bisherigen Formen entwickeln sich aber auch
schon wieder neue Ordnungen, die hinüber leiten zu dem Rechte der
Gegenwart.

I. Die schrankenlos gewordene öffentliche Gewalt wird ausgeübt
durch den Fürsten selbst und unter ihm in seinem Namen und damit
zugleich im Namen des Staats durch verschiedenartiges Beamtentum.
Der Machtanteil, der jedem zukommt, bestimmt sich wie folgt.

1. Der Fürst ist der eigentliche Träger der ungeheuren Auf-
gabe der Verfolgung des Staatszweckes. Wäre es nach Menschennatur
möglich, so würde er alles allein thun. So aber bleibt wenigstens
dr Grundsatz bestehen, daſs kein Gegenstand staatlicher Verwaltung
seiner unmittelbaren Thätigkeit entzogen ist. Wichtigere Dinge sind
ihm vorbehalten, minder wichtiger bemächtigt er sich, wie sie gerade
seine Aufmerksamkeit erregen3.

1 Christian v. Wolff (1679—1754) gilt als der „offizielle Staatsphilosoph“
Friedrichs des Groſsen. Seine hier einschlagenden Werke: Jus naturae (9 Bde.
1740—1748) und: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen
und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des
menschlichen Geschlechts (4. Aufl. 1736) sind mit ihrer ganzen Süſslichkeit von
der Art des Preuſsischen Staatswesens weit genug entfernt. Der wahre Prophet
der neuen Verwaltung, namentlich der preuſsischen, ist Justi, Grundsätze der
Polizeiwissenschaft, 1756, wo schon in der Vorrede ein bewuſster Gegensatz zu
Wolffs Verflachungen betont wird.
2 Die berühmten Aussprüche: L’état c’est moi (Ludwig XIV) und „Der König
ist der erste Diener des Staates“ (Friedrich der Groſse) sind in diesem Sinne ju-
ristisch gleichwertig.
3 Es ist bekannt, welch lebhaften Anteil Friedrich der Groſse an der Polizei-
verwaltung seiner Residenzstadt Potsdam genommen hat. Preuſs, Urkundenbuch
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[38/0058] Geschichtliche Entwicklungsstufen. § 4. Der Polizeistaat. Wenn schon geraume Zeit vor dem gänzlichen Zusammenbruch der Reichsgerichtsbarkeit die öffentliche Gewalt überall die alten Rechtsschranken zu überfluten suchte, so geschah es unter dem An- trieb mächtiger neuer Ideen, neuer Aufgaben, die sie sich stellte. Die Polizei, welche dem Ganzen den Stempel giebt, wird zu einer planmäſsigen Bearbeitung des zur Verfügung stehenden Menschen- materials, um es einem groſsen Ziele entgegenzuführen, Das Ziel ist die Macht und Gröſse des Gemeinwesens 1. Die Staatsidee tritt in den Vordergrund; nicht für sich und zur Geltendmachung eines ihm zu- stehenden Hoheitsrechtes nimmt der Fürst das alles in Anspruch, sondern im Namen des idealen Rechtssubjektes, das er vertritt 2. Neben der Verneinung der bisherigen Formen entwickeln sich aber auch schon wieder neue Ordnungen, die hinüber leiten zu dem Rechte der Gegenwart. I. Die schrankenlos gewordene öffentliche Gewalt wird ausgeübt durch den Fürsten selbst und unter ihm in seinem Namen und damit zugleich im Namen des Staats durch verschiedenartiges Beamtentum. Der Machtanteil, der jedem zukommt, bestimmt sich wie folgt. 1. Der Fürst ist der eigentliche Träger der ungeheuren Auf- gabe der Verfolgung des Staatszweckes. Wäre es nach Menschennatur möglich, so würde er alles allein thun. So aber bleibt wenigstens dr Grundsatz bestehen, daſs kein Gegenstand staatlicher Verwaltung seiner unmittelbaren Thätigkeit entzogen ist. Wichtigere Dinge sind ihm vorbehalten, minder wichtiger bemächtigt er sich, wie sie gerade seine Aufmerksamkeit erregen 3. 1 Christian v. Wolff (1679—1754) gilt als der „offizielle Staatsphilosoph“ Friedrichs des Groſsen. Seine hier einschlagenden Werke: Jus naturae (9 Bde. 1740—1748) und: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts (4. Aufl. 1736) sind mit ihrer ganzen Süſslichkeit von der Art des Preuſsischen Staatswesens weit genug entfernt. Der wahre Prophet der neuen Verwaltung, namentlich der preuſsischen, ist Justi, Grundsätze der Polizeiwissenschaft, 1756, wo schon in der Vorrede ein bewuſster Gegensatz zu Wolffs Verflachungen betont wird. 2 Die berühmten Aussprüche: L’état c’est moi (Ludwig XIV) und „Der König ist der erste Diener des Staates“ (Friedrich der Groſse) sind in diesem Sinne ju- ristisch gleichwertig. 3 Es ist bekannt, welch lebhaften Anteil Friedrich der Groſse an der Polizei- verwaltung seiner Residenzstadt Potsdam genommen hat. Preuſs, Urkundenbuch

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/58>, abgerufen am 19.04.2024.