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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 24. Unmittelbarer Zwang.
Dienstbefehl der leitenden Behörde2 oder auch nach vorgängiger
genauerer Bestimmung des Zieles durch einen Verwaltungsakt3, macht
keinen wesentlichen Unterschied; der Gegensatz zur polizeilichen
Zwangsvollstreckung bleibt derselbe.

Die Frage, auf die hier alles ankommt, ist die nach der recht-
lichen Zulässigkeit
eines Eingriffes in Freiheit und Eigentum,
wie er da gemacht wird. Die polizeiliche Zwangsvollstreckung ist in
dieser Beziehung gedeckt durch den Befehl, den sie durchführt und
bedarf der eignen gesetzlichen Grundlage nur dann, wenn sie weiter-
gehende Mittel gebrauchen soll (oben S. 327, 328). Für den unmittel-
baren Zwang ist die Frage nach seiner Rechtfertigung selbständig zu
stellen.

Diese Rechtfertigung kann gegeben sein durch eine besondere
gesetzliche Bestimmung,
welche Gewaltanwendung für einen
bestimmten polizeilichen Zweck gestattet4. Die Auslegung des Gesetzes-
textes bestimmt dann, was geschehen kann, und die Verwertung dieser
Ermächtigung richtet sich nach bekannten Regeln.

Unmittelbarer Zwang findet aber ausserdem statt in weitem Um-
fange, ohne besondere gesetzliche Grundlage, manchmal so, dass das
Gesetz nur ganz im allgemeinen darauf verweist, manchmal auch
ohne das, stets in anerkannter Rechtmässigkeit.

Eine derartige Selbstverständlichkeit der polizeilichen
Gewaltanwendung ist nur möglich infolge der besonderen Natur der
Polizeigewalt. Es sind bereits gegebene Unterthanenpflichten, welche
sie zur Geltung bringen will; ordentlicherweise thut sie das in den
Formen des Rechts- und Verfassungsstaates. Die Polizeiwidrigkeit
kann aber im Einzelfalle mit solcher Kraft und Entschiedenheit auf-
treten, dass das natürliche Recht der Polizeigewalt gegenüber der
formellen Freiheitsgrenze überwiegt: der verfassungsmässige Vorbehalt

Das widerspricht aber schon dem Sprachgefühl. Die Sache wird erst klar, wenn
man Zwangsvollstreckung und unmittelbaren Zwang unterscheidet, welchen beiden
die Gewaltanwendung als Mittel dient.
2 Die ältere Auffassung sieht darin einen grossen Unterschied, ob Dienstbefehl
vorliegt oder nicht: O.Tr. 4. Juni 1872 (J.M.Bl. S. 89). Unter Umständen kann
allerdings die Rechtmässigkeit der thatsächlichen Gewaltübung gesetzlich bedingt
sein von einem gehörigen Dienstauftrag dafür: Preuss. Ges. 12. Febr. 1850, R.Reb-
lausges. 6. Aug. 1875 § 2, R.Viehseuchenges. 23. Juni 1880 § 27 Abs. 3.
3 R.Viehseuchenges. § 18 z. B. behandelt die Anordnung der Tötung seuchen-
verdächtigen Viehes als solchen Verwaltungsakt und lässt Beschwerde dagegen zu.
4 Beispiele: R.Viehseuchenges. § 24; R.Reblausges. § 3 Abs. 2 Ziff. 2;
R.Nahrungsmittelges. v. 14. Mai 1879 § 2 u. 9.

§ 24. Unmittelbarer Zwang.
Dienstbefehl der leitenden Behörde2 oder auch nach vorgängiger
genauerer Bestimmung des Zieles durch einen Verwaltungsakt3, macht
keinen wesentlichen Unterschied; der Gegensatz zur polizeilichen
Zwangsvollstreckung bleibt derselbe.

Die Frage, auf die hier alles ankommt, ist die nach der recht-
lichen Zulässigkeit
eines Eingriffes in Freiheit und Eigentum,
wie er da gemacht wird. Die polizeiliche Zwangsvollstreckung ist in
dieser Beziehung gedeckt durch den Befehl, den sie durchführt und
bedarf der eignen gesetzlichen Grundlage nur dann, wenn sie weiter-
gehende Mittel gebrauchen soll (oben S. 327, 328). Für den unmittel-
baren Zwang ist die Frage nach seiner Rechtfertigung selbständig zu
stellen.

Diese Rechtfertigung kann gegeben sein durch eine besondere
gesetzliche Bestimmung,
welche Gewaltanwendung für einen
bestimmten polizeilichen Zweck gestattet4. Die Auslegung des Gesetzes-
textes bestimmt dann, was geschehen kann, und die Verwertung dieser
Ermächtigung richtet sich nach bekannten Regeln.

Unmittelbarer Zwang findet aber auſserdem statt in weitem Um-
fange, ohne besondere gesetzliche Grundlage, manchmal so, daſs das
Gesetz nur ganz im allgemeinen darauf verweist, manchmal auch
ohne das, stets in anerkannter Rechtmäſsigkeit.

Eine derartige Selbstverständlichkeit der polizeilichen
Gewaltanwendung ist nur möglich infolge der besonderen Natur der
Polizeigewalt. Es sind bereits gegebene Unterthanenpflichten, welche
sie zur Geltung bringen will; ordentlicherweise thut sie das in den
Formen des Rechts- und Verfassungsstaates. Die Polizeiwidrigkeit
kann aber im Einzelfalle mit solcher Kraft und Entschiedenheit auf-
treten, daſs das natürliche Recht der Polizeigewalt gegenüber der
formellen Freiheitsgrenze überwiegt: der verfassungsmäſsige Vorbehalt

Das widerspricht aber schon dem Sprachgefühl. Die Sache wird erst klar, wenn
man Zwangsvollstreckung und unmittelbaren Zwang unterscheidet, welchen beiden
die Gewaltanwendung als Mittel dient.
2 Die ältere Auffassung sieht darin einen groſsen Unterschied, ob Dienstbefehl
vorliegt oder nicht: O.Tr. 4. Juni 1872 (J.M.Bl. S. 89). Unter Umständen kann
allerdings die Rechtmäſsigkeit der thatsächlichen Gewaltübung gesetzlich bedingt
sein von einem gehörigen Dienstauftrag dafür: Preuſs. Ges. 12. Febr. 1850, R.Reb-
lausges. 6. Aug. 1875 § 2, R.Viehseuchenges. 23. Juni 1880 § 27 Abs. 3.
3 R.Viehseuchenges. § 18 z. B. behandelt die Anordnung der Tötung seuchen-
verdächtigen Viehes als solchen Verwaltungsakt und läſst Beschwerde dagegen zu.
4 Beispiele: R.Viehseuchenges. § 24; R.Reblausges. § 3 Abs. 2 Ziff. 2;
R.Nahrungsmittelges. v. 14. Mai 1879 § 2 u. 9.
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[347/0367] § 24. Unmittelbarer Zwang. Dienstbefehl der leitenden Behörde 2 oder auch nach vorgängiger genauerer Bestimmung des Zieles durch einen Verwaltungsakt 3, macht keinen wesentlichen Unterschied; der Gegensatz zur polizeilichen Zwangsvollstreckung bleibt derselbe. Die Frage, auf die hier alles ankommt, ist die nach der recht- lichen Zulässigkeit eines Eingriffes in Freiheit und Eigentum, wie er da gemacht wird. Die polizeiliche Zwangsvollstreckung ist in dieser Beziehung gedeckt durch den Befehl, den sie durchführt und bedarf der eignen gesetzlichen Grundlage nur dann, wenn sie weiter- gehende Mittel gebrauchen soll (oben S. 327, 328). Für den unmittel- baren Zwang ist die Frage nach seiner Rechtfertigung selbständig zu stellen. Diese Rechtfertigung kann gegeben sein durch eine besondere gesetzliche Bestimmung, welche Gewaltanwendung für einen bestimmten polizeilichen Zweck gestattet 4. Die Auslegung des Gesetzes- textes bestimmt dann, was geschehen kann, und die Verwertung dieser Ermächtigung richtet sich nach bekannten Regeln. Unmittelbarer Zwang findet aber auſserdem statt in weitem Um- fange, ohne besondere gesetzliche Grundlage, manchmal so, daſs das Gesetz nur ganz im allgemeinen darauf verweist, manchmal auch ohne das, stets in anerkannter Rechtmäſsigkeit. Eine derartige Selbstverständlichkeit der polizeilichen Gewaltanwendung ist nur möglich infolge der besonderen Natur der Polizeigewalt. Es sind bereits gegebene Unterthanenpflichten, welche sie zur Geltung bringen will; ordentlicherweise thut sie das in den Formen des Rechts- und Verfassungsstaates. Die Polizeiwidrigkeit kann aber im Einzelfalle mit solcher Kraft und Entschiedenheit auf- treten, daſs das natürliche Recht der Polizeigewalt gegenüber der formellen Freiheitsgrenze überwiegt: der verfassungsmäſsige Vorbehalt 1 2 Die ältere Auffassung sieht darin einen groſsen Unterschied, ob Dienstbefehl vorliegt oder nicht: O.Tr. 4. Juni 1872 (J.M.Bl. S. 89). Unter Umständen kann allerdings die Rechtmäſsigkeit der thatsächlichen Gewaltübung gesetzlich bedingt sein von einem gehörigen Dienstauftrag dafür: Preuſs. Ges. 12. Febr. 1850, R.Reb- lausges. 6. Aug. 1875 § 2, R.Viehseuchenges. 23. Juni 1880 § 27 Abs. 3. 3 R.Viehseuchenges. § 18 z. B. behandelt die Anordnung der Tötung seuchen- verdächtigen Viehes als solchen Verwaltungsakt und läſst Beschwerde dagegen zu. 4 Beispiele: R.Viehseuchenges. § 24; R.Reblausges. § 3 Abs. 2 Ziff. 2; R.Nahrungsmittelges. v. 14. Mai 1879 § 2 u. 9. 1 Das widerspricht aber schon dem Sprachgefühl. Die Sache wird erst klar, wenn man Zwangsvollstreckung und unmittelbaren Zwang unterscheidet, welchen beiden die Gewaltanwendung als Mittel dient.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/367>, abgerufen am 23.04.2024.