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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenstuhl
der Trägheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode
der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher gewesen,
und hat allen großen und kleinen, schädlichen und
nützlichen, edlen und gemeinen Interessen der Zeit
als Magd gedient.

Dadurch hat sie aber an Mannigfaltigkeit und
Masse ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne,
der zum erstenmal in die Bücherwelt geräth, sich in
ein Chaos versetzt findet. Stets beschäftigt, alles
andre zu begreifen, hat sie sich selbst noch nicht be¬
griffen. Sie ist ein Kopf mit vielen tausend Zun¬
gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬
cher Baum beschattet sie das lebende Geschlecht, doch
aller Blüthen Auge sieht nach außen und die weit¬
verbreiteten Äste stehn von einander ab. Überall er¬
blicken wir Wissenschaften und Künste, die einander
ausschließen, wiewohl ein Boden sie nährt, eine Sonne
sie reift und ihre Früchte gemeinsam uns bereichern.
Überall sehn wir Parteien, die einander durch den¬
selben Gegensatz zu vernichten trachten, wodurch sie
sich wechselseitig erzeugen und aufrecht halten. Der
Geist, der ein Fremdling in diese Literatur eintritt,
weiß sich nicht zurecht zu finden in der Fülle, und
nicht zu sondern, was in untergeordnete Sphären
zerfällt. Er begnügt sich mit dem Kleinen, weil er
das Große nicht kennt, mit der Einseitigkeit, weil
er die andre Seite nicht sieht; und mehr noch als
die Mannigfaltigkeit von Büchern die Übersicht er¬

delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl
der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode
der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen,
und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und
nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit
als Magd gedient.

Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und
Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne,
der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in
ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles
andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬
griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬
gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬
cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch
aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬
verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬
blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander
ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne
ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern.
Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬
ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie
ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der
Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt,
weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und
nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren
zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er
das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil
er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als
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[15/0025] delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen, und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit als Magd gedient. Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne, der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬ griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬ gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬ cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬ verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬ blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern. Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬ ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt, weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als die Mannigfaltigkeit von Buͤchern die Überſicht er¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/25>, abgerufen am 28.03.2024.