delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenstuhl der Trägheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher gewesen, und hat allen großen und kleinen, schädlichen und nützlichen, edlen und gemeinen Interessen der Zeit als Magd gedient.
Dadurch hat sie aber an Mannigfaltigkeit und Masse ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne, der zum erstenmal in die Bücherwelt geräth, sich in ein Chaos versetzt findet. Stets beschäftigt, alles andre zu begreifen, hat sie sich selbst noch nicht be¬ griffen. Sie ist ein Kopf mit vielen tausend Zun¬ gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬ cher Baum beschattet sie das lebende Geschlecht, doch aller Blüthen Auge sieht nach außen und die weit¬ verbreiteten Äste stehn von einander ab. Überall er¬ blicken wir Wissenschaften und Künste, die einander ausschließen, wiewohl ein Boden sie nährt, eine Sonne sie reift und ihre Früchte gemeinsam uns bereichern. Überall sehn wir Parteien, die einander durch den¬ selben Gegensatz zu vernichten trachten, wodurch sie sich wechselseitig erzeugen und aufrecht halten. Der Geist, der ein Fremdling in diese Literatur eintritt, weiß sich nicht zurecht zu finden in der Fülle, und nicht zu sondern, was in untergeordnete Sphären zerfällt. Er begnügt sich mit dem Kleinen, weil er das Große nicht kennt, mit der Einseitigkeit, weil er die andre Seite nicht sieht; und mehr noch als die Mannigfaltigkeit von Büchern die Übersicht er¬
delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen, und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit als Magd gedient.
Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne, der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬ griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬ gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬ cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬ verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬ blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern. Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬ ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt, weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als die Mannigfaltigkeit von Buͤchern die Überſicht er¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0025"n="15"/>
delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl<lb/>
der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode<lb/>
der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen,<lb/>
und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und<lb/>
nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit<lb/>
als Magd gedient.</p><lb/><p>Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und<lb/>
Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne,<lb/>
der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in<lb/>
ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles<lb/>
andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬<lb/>
griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬<lb/>
gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬<lb/>
cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch<lb/>
aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬<lb/>
verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬<lb/>
blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander<lb/>
ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne<lb/>ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern.<lb/>
Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬<lb/>ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie<lb/>ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der<lb/>
Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt,<lb/>
weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und<lb/>
nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren<lb/>
zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er<lb/>
das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil<lb/>
er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als<lb/>
die Mannigfaltigkeit von Buͤchern die Überſicht er¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[15/0025]
delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl
der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode
der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen,
und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und
nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit
als Magd gedient.
Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und
Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne,
der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in
ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles
andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬
griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬
gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬
cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch
aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬
verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬
blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander
ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne
ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern.
Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬
ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie
ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der
Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt,
weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und
nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren
zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er
das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil
er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als
die Mannigfaltigkeit von Buͤchern die Überſicht er¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/25>, abgerufen am 28.03.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.