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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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und die Lebendigkeit der pantheistischen Naturansicht
hat sehr viel vor den spätern Versuchen voraus, die
Natur im Einzelnen und als todten Leichnam zu se¬
ciren. Dagegen ist die spätere Trennung der Wis¬
senschaft von der Religion ein nothwendiger und we¬
sentlicher Fortschritt. Die neueste Naturphilosophie
hat das Gute von beiden Richtungen zu vereinigen
gesucht, die Natur wieder als ein großes Organon
lebendig aufgefaßt, und doch nicht Glauben und Poesie,
sondern die Thatsachen der Erfahrung dabei zu Grunde
gelegt. Ein religiöses und poetisches Interesse hat
sich dabei von selber eingefunden, wie es bei einer
lebendigen Naturansicht nicht anders seyn kann, und
die Empiriker machen sich nur lächerlich, wenn sie
eine gewisse Trockenheit und Kälte zum Kriterium
der Wissenschaft machen wollen, und eine tiefe Wahr¬
heit von vorn herein blos darum verdächtigen, weil
sie zugleich poetisch ist. Indeß läßt sich nicht läug¬
nen, daß an jenen Schranken, die der Wissenschaft
von der Natur selbst gezogen sind, theils die religiöse
Gemüthlichkeit, theils die Phantasie ein nichtiges
Spiel von Hypothesen begonnen hat, gegen welche
die Empiriker mit Recht sich ereifern. Diese Hypo¬
thesen mögen wir aufopfern, wenn nur die große
philosophische Ansicht der Natur selbst gerettet wird.

Wir erkennen in dreifacher Richtung unübersteig¬
liche Gränzen der Naturwissenschaft, in der Richtung,
welche von unsrem Sonnensystem ins Universum führt,
in der, welche von den sinnlichen Erscheinungen in¬

und die Lebendigkeit der pantheiſtiſchen Naturanſicht
hat ſehr viel vor den ſpaͤtern Verſuchen voraus, die
Natur im Einzelnen und als todten Leichnam zu ſe¬
ciren. Dagegen iſt die ſpaͤtere Trennung der Wiſ¬
ſenſchaft von der Religion ein nothwendiger und we¬
ſentlicher Fortſchritt. Die neueſte Naturphiloſophie
hat das Gute von beiden Richtungen zu vereinigen
geſucht, die Natur wieder als ein großes Organon
lebendig aufgefaßt, und doch nicht Glauben und Poeſie,
ſondern die Thatſachen der Erfahrung dabei zu Grunde
gelegt. Ein religioͤſes und poetiſches Intereſſe hat
ſich dabei von ſelber eingefunden, wie es bei einer
lebendigen Naturanſicht nicht anders ſeyn kann, und
die Empiriker machen ſich nur laͤcherlich, wenn ſie
eine gewiſſe Trockenheit und Kaͤlte zum Kriterium
der Wiſſenſchaft machen wollen, und eine tiefe Wahr¬
heit von vorn herein blos darum verdaͤchtigen, weil
ſie zugleich poetiſch iſt. Indeß laͤßt ſich nicht laͤug¬
nen, daß an jenen Schranken, die der Wiſſenſchaft
von der Natur ſelbſt gezogen ſind, theils die religioͤſe
Gemuͤthlichkeit, theils die Phantaſie ein nichtiges
Spiel von Hypotheſen begonnen hat, gegen welche
die Empiriker mit Recht ſich ereifern. Dieſe Hypo¬
theſen moͤgen wir aufopfern, wenn nur die große
philoſophiſche Anſicht der Natur ſelbſt gerettet wird.

Wir erkennen in dreifacher Richtung unuͤberſteig¬
liche Graͤnzen der Naturwiſſenſchaft, in der Richtung,
welche von unſrem Sonnenſyſtem ins Univerſum fuͤhrt,
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[6/0016] und die Lebendigkeit der pantheiſtiſchen Naturanſicht hat ſehr viel vor den ſpaͤtern Verſuchen voraus, die Natur im Einzelnen und als todten Leichnam zu ſe¬ ciren. Dagegen iſt die ſpaͤtere Trennung der Wiſ¬ ſenſchaft von der Religion ein nothwendiger und we¬ ſentlicher Fortſchritt. Die neueſte Naturphiloſophie hat das Gute von beiden Richtungen zu vereinigen geſucht, die Natur wieder als ein großes Organon lebendig aufgefaßt, und doch nicht Glauben und Poeſie, ſondern die Thatſachen der Erfahrung dabei zu Grunde gelegt. Ein religioͤſes und poetiſches Intereſſe hat ſich dabei von ſelber eingefunden, wie es bei einer lebendigen Naturanſicht nicht anders ſeyn kann, und die Empiriker machen ſich nur laͤcherlich, wenn ſie eine gewiſſe Trockenheit und Kaͤlte zum Kriterium der Wiſſenſchaft machen wollen, und eine tiefe Wahr¬ heit von vorn herein blos darum verdaͤchtigen, weil ſie zugleich poetiſch iſt. Indeß laͤßt ſich nicht laͤug¬ nen, daß an jenen Schranken, die der Wiſſenſchaft von der Natur ſelbſt gezogen ſind, theils die religioͤſe Gemuͤthlichkeit, theils die Phantaſie ein nichtiges Spiel von Hypotheſen begonnen hat, gegen welche die Empiriker mit Recht ſich ereifern. Dieſe Hypo¬ theſen moͤgen wir aufopfern, wenn nur die große philoſophiſche Anſicht der Natur ſelbſt gerettet wird. Wir erkennen in dreifacher Richtung unuͤberſteig¬ liche Graͤnzen der Naturwiſſenſchaft, in der Richtung, welche von unſrem Sonnenſyſtem ins Univerſum fuͤhrt, in der, welche von den ſinnlichen Erſcheinungen in¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/16>, abgerufen am 25.04.2024.