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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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das Unermeßliche. Durch die Schranken unserer Sinne
gefesselt, erkennen wir immer nur den gemischten
Stoff; das Gewordene, nicht das ursprüngliche We¬
sen; die Wirkung, nicht die Ursache.

Die Physiologie bleibt vor gleichen Schranken
stehn. Sie läßt sich verfolgen bis in die sinnlichen
Organe des Menschen, hier aber gränzt sie an die
unbekannte Welt des Geistes, wo eine neue Reihe
von Hypothesen beginnt. Der Zusammenhang von
Körper und Geist bleibt ein ewiges Räthsel, und die
Philosophen und Naturforscher streiten sich nur um
den Vorrang, vor dieser Sphinx zum Spott zu wer¬
den. Als Extreme aller hierhin einschlagenden Hy¬
pothesen sind die materialistische und idealistische An¬
sicht sich entgegengesetzt. Jene macht den Geist von
der Materie abhängig und erklärt ihn als eine höhere
Sublimation der Organe, als Blüthe der materiellen
Pflanze; diese setzt den Geist als das Absolute und
trennt ihn entweder von der Natur oder läugnet die
objective Wirklichkeit der Natur und betrachtet die¬
selbe nur als subjective Vorspiegelung des Geistes.
Alle diese Hypothesen sind fruchtlos, denn die Wahr¬
heit könnten wir nur schauen, wenn wir uns auf
einem Punkt außerhalb der Einheit von Körper und
Geist befänden; da wir uns aber überall im Mittel¬
punkt dieser Einheit selbst befinden, wird sie uns
niemals objectiv.

Abgesehn aber von diesen dreifachen Schranken
unsrer Naturerkenntniß ist eine strenge Naturwissen¬

das Unermeßliche. Durch die Schranken unſerer Sinne
gefeſſelt, erkennen wir immer nur den gemiſchten
Stoff; das Gewordene, nicht das urſpruͤngliche We¬
ſen; die Wirkung, nicht die Urſache.

Die Phyſiologie bleibt vor gleichen Schranken
ſtehn. Sie laͤßt ſich verfolgen bis in die ſinnlichen
Organe des Menſchen, hier aber graͤnzt ſie an die
unbekannte Welt des Geiſtes, wo eine neue Reihe
von Hypotheſen beginnt. Der Zuſammenhang von
Koͤrper und Geiſt bleibt ein ewiges Raͤthſel, und die
Philoſophen und Naturforſcher ſtreiten ſich nur um
den Vorrang, vor dieſer Sphinx zum Spott zu wer¬
den. Als Extreme aller hierhin einſchlagenden Hy¬
potheſen ſind die materialiſtiſche und idealiſtiſche An¬
ſicht ſich entgegengeſetzt. Jene macht den Geiſt von
der Materie abhaͤngig und erklaͤrt ihn als eine hoͤhere
Sublimation der Organe, als Bluͤthe der materiellen
Pflanze; dieſe ſetzt den Geiſt als das Abſolute und
trennt ihn entweder von der Natur oder laͤugnet die
objective Wirklichkeit der Natur und betrachtet die¬
ſelbe nur als ſubjective Vorſpiegelung des Geiſtes.
Alle dieſe Hypotheſen ſind fruchtlos, denn die Wahr¬
heit koͤnnten wir nur ſchauen, wenn wir uns auf
einem Punkt außerhalb der Einheit von Koͤrper und
Geiſt befaͤnden; da wir uns aber uͤberall im Mittel¬
punkt dieſer Einheit ſelbſt befinden, wird ſie uns
niemals objectiv.

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[9/0019] das Unermeßliche. Durch die Schranken unſerer Sinne gefeſſelt, erkennen wir immer nur den gemiſchten Stoff; das Gewordene, nicht das urſpruͤngliche We¬ ſen; die Wirkung, nicht die Urſache. Die Phyſiologie bleibt vor gleichen Schranken ſtehn. Sie laͤßt ſich verfolgen bis in die ſinnlichen Organe des Menſchen, hier aber graͤnzt ſie an die unbekannte Welt des Geiſtes, wo eine neue Reihe von Hypotheſen beginnt. Der Zuſammenhang von Koͤrper und Geiſt bleibt ein ewiges Raͤthſel, und die Philoſophen und Naturforſcher ſtreiten ſich nur um den Vorrang, vor dieſer Sphinx zum Spott zu wer¬ den. Als Extreme aller hierhin einſchlagenden Hy¬ potheſen ſind die materialiſtiſche und idealiſtiſche An¬ ſicht ſich entgegengeſetzt. Jene macht den Geiſt von der Materie abhaͤngig und erklaͤrt ihn als eine hoͤhere Sublimation der Organe, als Bluͤthe der materiellen Pflanze; dieſe ſetzt den Geiſt als das Abſolute und trennt ihn entweder von der Natur oder laͤugnet die objective Wirklichkeit der Natur und betrachtet die¬ ſelbe nur als ſubjective Vorſpiegelung des Geiſtes. Alle dieſe Hypotheſen ſind fruchtlos, denn die Wahr¬ heit koͤnnten wir nur ſchauen, wenn wir uns auf einem Punkt außerhalb der Einheit von Koͤrper und Geiſt befaͤnden; da wir uns aber uͤberall im Mittel¬ punkt dieſer Einheit ſelbſt befinden, wird ſie uns niemals objectiv. Abgeſehn aber von dieſen dreifachen Schranken unſrer Naturerkenntniß iſt eine ſtrenge Naturwiſſen¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/19>, abgerufen am 29.03.2024.