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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Wundfieber.
"Berggeist, ich höre deine Ströme rauschen --
Gieb mir Gehör! Wir wollen Rede tauschen!
Du von der Firne mondenhellen Hängen,
Ich aus der Krankenkammer schwülen Engen!
Denn wisse, Geist, ich liege hier gefangen
Und lasse den geknickten Flügel hangen.
Ich ächz' und stöhne, den gelähmten, wunden,
Gebrochnen Arm dicht an den Leib gebunden.
Zwei kurzer Wandertage süßes Träumen --
Und dich verdroß ein Gast in deinen Räumen.
Vom Tische stießest du den freud'gen Zecher,
Entrissest mir den eisgewürzten Becher
Und rolltest mich hohnlachend durch die Klüfte
Hinunter in des Fieberlagers Grüfte.
Verräther, schmählich hast du mich betrogen!
Hast du mich leise rufend nicht gezogen?
Warst du mir lange Jahre nicht gewogen?
Und wann in deinem Reich ich mich verirrte,
Schritt nicht, wie Zufall, mir voran ein Hirte
Und ließ in seine sichern Stapfen treten
Bergab mich -- ungerufen, ungebeten?
Du bist mir gram geworden? Laß dich fragen!
Muß ich der führerlosen Fahrt entsagen?
Des hohen Irreganges mich entwöhnen?"
Wundfieber.
„Berggeiſt, ich höre deine Ströme rauſchen —
Gieb mir Gehör! Wir wollen Rede tauſchen!
Du von der Firne mondenhellen Hängen,
Ich aus der Krankenkammer ſchwülen Engen!
Denn wiſſe, Geiſt, ich liege hier gefangen
Und laſſe den geknickten Flügel hangen.
Ich ächz' und ſtöhne, den gelähmten, wunden,
Gebrochnen Arm dicht an den Leib gebunden.
Zwei kurzer Wandertage ſüßes Träumen —
Und dich verdroß ein Gaſt in deinen Räumen.
Vom Tiſche ſtießeſt du den freud'gen Zecher,
Entriſſeſt mir den eisgewürzten Becher
Und rollteſt mich hohnlachend durch die Klüfte
Hinunter in des Fieberlagers Grüfte.
Verräther, ſchmählich haſt du mich betrogen!
Haſt du mich leiſe rufend nicht gezogen?
Warſt du mir lange Jahre nicht gewogen?
Und wann in deinem Reich ich mich verirrte,
Schritt nicht, wie Zufall, mir voran ein Hirte
Und ließ in ſeine ſichern Stapfen treten
Bergab mich — ungerufen, ungebeten?
Du biſt mir gram geworden? Laß dich fragen!
Muß ich der führerloſen Fahrt entſagen?
Des hohen Irreganges mich entwöhnen?“
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[96/0110] Wundfieber. „Berggeiſt, ich höre deine Ströme rauſchen — Gieb mir Gehör! Wir wollen Rede tauſchen! Du von der Firne mondenhellen Hängen, Ich aus der Krankenkammer ſchwülen Engen! Denn wiſſe, Geiſt, ich liege hier gefangen Und laſſe den geknickten Flügel hangen. Ich ächz' und ſtöhne, den gelähmten, wunden, Gebrochnen Arm dicht an den Leib gebunden. Zwei kurzer Wandertage ſüßes Träumen — Und dich verdroß ein Gaſt in deinen Räumen. Vom Tiſche ſtießeſt du den freud'gen Zecher, Entriſſeſt mir den eisgewürzten Becher Und rollteſt mich hohnlachend durch die Klüfte Hinunter in des Fieberlagers Grüfte. Verräther, ſchmählich haſt du mich betrogen! Haſt du mich leiſe rufend nicht gezogen? Warſt du mir lange Jahre nicht gewogen? Und wann in deinem Reich ich mich verirrte, Schritt nicht, wie Zufall, mir voran ein Hirte Und ließ in ſeine ſichern Stapfen treten Bergab mich — ungerufen, ungebeten? Du biſt mir gram geworden? Laß dich fragen! Muß ich der führerloſen Fahrt entſagen? Des hohen Irreganges mich entwöhnen?“

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/110>, abgerufen am 25.04.2024.