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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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"Tag, schein' herein und, Leben, flieh hinaus!"
Shakespeare.
Tag, schein' herein! Die Kammer steht dir offen!
Holdsel'ger Lenzesmorgen, schein' herein!
Schon glitzert, von der Sonne Strahl getroffen,
Das Tintenfaß, der eichne Bücherschrein.
Vogt Winter muß dem Lenze Rechnung geben,
Dem schönen Erben über Hof und Haus --
Auch mir zu gut geschrieben ist ein Leben --
Tag, schein' herein und, Leben, flieh hinaus!
Ich war von einem schweren Bann gebunden.
Ich lebte nicht. Ich lag im Traum erstarrt.
Von vielen tausend unverbrauchten Stunden
Schwillt ungestüm mir nun die Gegenwart.
Aus dunkelm Grunde grüne Saat zu wecken
Bedarf es Sonnenstrahles nur und Thaus,
Ich fühle wie sich tausend Keime strecken.
Tag, schein' herein und, Leben, flieh hinaus!
Ein Segel zieht auf wunderkühlen Pfaden,
In Flutendunkel spiegelt sich der Tag.
Was hat die Barke dort für mich geladen?
Vielleicht ist's etwas das mich freuen mag!
Entgegen ihr! Was wird die Barke bringen
Durch blauer Wellen freudiges Gebraus?
Entgegen ihr! Mit weitgestreckten Schwingen!
Tag, schein' herein und, Leben, flieh hinaus!

„Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus!“
Shakespeare.
Tag, ſchein' herein! Die Kammer ſteht dir offen!
Holdſel'ger Lenzesmorgen, ſchein' herein!
Schon glitzert, von der Sonne Strahl getroffen,
Das Tintenfaß, der eichne Bücherſchrein.
Vogt Winter muß dem Lenze Rechnung geben,
Dem ſchönen Erben über Hof und Haus —
Auch mir zu gut geſchrieben iſt ein Leben —
Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus!
Ich war von einem ſchweren Bann gebunden.
Ich lebte nicht. Ich lag im Traum erſtarrt.
Von vielen tauſend unverbrauchten Stunden
Schwillt ungeſtüm mir nun die Gegenwart.
Aus dunkelm Grunde grüne Saat zu wecken
Bedarf es Sonnenſtrahles nur und Thaus,
Ich fühle wie ſich tauſend Keime ſtrecken.
Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus!
Ein Segel zieht auf wunderkühlen Pfaden,
In Flutendunkel ſpiegelt ſich der Tag.
Was hat die Barke dort für mich geladen?
Vielleicht iſt's etwas das mich freuen mag!
Entgegen ihr! Was wird die Barke bringen
Durch blauer Wellen freudiges Gebraus?
Entgegen ihr! Mit weitgeſtreckten Schwingen!
Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus!

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[[111]/0125] „Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus!“ Shakespeare. Tag, ſchein' herein! Die Kammer ſteht dir offen! Holdſel'ger Lenzesmorgen, ſchein' herein! Schon glitzert, von der Sonne Strahl getroffen, Das Tintenfaß, der eichne Bücherſchrein. Vogt Winter muß dem Lenze Rechnung geben, Dem ſchönen Erben über Hof und Haus — Auch mir zu gut geſchrieben iſt ein Leben — Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus! Ich war von einem ſchweren Bann gebunden. Ich lebte nicht. Ich lag im Traum erſtarrt. Von vielen tauſend unverbrauchten Stunden Schwillt ungeſtüm mir nun die Gegenwart. Aus dunkelm Grunde grüne Saat zu wecken Bedarf es Sonnenſtrahles nur und Thaus, Ich fühle wie ſich tauſend Keime ſtrecken. Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus! Ein Segel zieht auf wunderkühlen Pfaden, In Flutendunkel ſpiegelt ſich der Tag. Was hat die Barke dort für mich geladen? Vielleicht iſt's etwas das mich freuen mag! Entgegen ihr! Was wird die Barke bringen Durch blauer Wellen freudiges Gebraus? Entgegen ihr! Mit weitgeſtreckten Schwingen! Tag, ſchein' herein und, Leben, flieh hinaus!

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. [111]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/125>, abgerufen am 29.03.2024.