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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Lethe.
Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten
Einen Nachen ohne Ruder ziehn,
Strom und Himmel stand in matten Gluten
Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord sich schlank,
Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen
Eine Schale, draus ein Jedes trank.
Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmuth,
Das die Schaar der Kranzgenossen sang --
Ich erkannte deines Nackens Demuth,
Deine Stimme, die den Chor durchdrang.
In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke
Schaudert' ich, wie seltsam kühl sie war.
Ich erreicht' die leise zieh'nde Barke,
Drängte mich in die geweihte Schaar.
Und die Reihe war an dir, zu trinken
Und die volle Schale hobest du,
Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:
"Herz, ich trinke dir Vergessen zu."
Lethe.
Jüngſt im Traume ſah ich auf den Fluten
Einen Nachen ohne Ruder ziehn,
Strom und Himmel ſtand in matten Gluten
Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord ſich ſchlank,
Kreiſend durch die Reihe ſah ich glänzen
Eine Schale, draus ein Jedes trank.
Jetzt erſcholl ein Lied voll ſüßer Wehmuth,
Das die Schaar der Kranzgenoſſen ſang —
Ich erkannte deines Nackens Demuth,
Deine Stimme, die den Chor durchdrang.
In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke
Schaudert' ich, wie ſeltſam kühl ſie war.
Ich erreicht' die leiſe zieh'nde Barke,
Drängte mich in die geweihte Schaar.
Und die Reihe war an dir, zu trinken
Und die volle Schale hobeſt du,
Sprachſt zu mir mit trautem Augenwinken:
„Herz, ich trinke dir Vergeſſen zu.“
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[169/0183] Lethe. Jüngſt im Traume ſah ich auf den Fluten Einen Nachen ohne Ruder ziehn, Strom und Himmel ſtand in matten Gluten Wie bei Tages Nahen oder Fliehn. Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen, Mädchen beugten über Bord ſich ſchlank, Kreiſend durch die Reihe ſah ich glänzen Eine Schale, draus ein Jedes trank. Jetzt erſcholl ein Lied voll ſüßer Wehmuth, Das die Schaar der Kranzgenoſſen ſang — Ich erkannte deines Nackens Demuth, Deine Stimme, die den Chor durchdrang. In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke Schaudert' ich, wie ſeltſam kühl ſie war. Ich erreicht' die leiſe zieh'nde Barke, Drängte mich in die geweihte Schaar. Und die Reihe war an dir, zu trinken Und die volle Schale hobeſt du, Sprachſt zu mir mit trautem Augenwinken: „Herz, ich trinke dir Vergeſſen zu.“

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/183>, abgerufen am 19.04.2024.