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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Der Stromgott.
Morgengraun. Die Karavane windet sich dem Nil zur Seite,
Eine Rede dröhnt und murmelt über dunkler Stromesbreite.
Längs dem Ufer nippen durstig silbergrau geperlte Tauben,
Trinken Ibisse mit blankem Flügelpaar und schwarzen Hauben.
Nil, der segenreiche Vater, sorgt für alle seine Kinder,
Speist und tränkt aus seiner Fülle keines mehr und keines
minder --

Neben einem braunen Reiter ein gebundner Knabe wandelt,
Joseph ist's, den seine Brüder in die Sklaverei verhandelt.
Taub' und Ibis flattern nur um wenig Flügelschläge weiter.
Joseph lauscht des Stromes Worten. Ruhig sitzt der stumme Reiter.
"Knabe, deine Blicke trauern! Jüngling, deine Füße bluten!
Dich verkauften deine Brüder ... Sei willkomm an meinen
Fluten!

Joseph, fremder Knabe Joseph, du gefesselter, du müder,
Bist du einst der Herr der Ernten, speise deine schlimmen Brüder!
Knabe Joseph!" rauscht es dumpfer. Das erstaunte Kind in Banden
Tröstet sich des güt'gen Grußes, bleibt er auch ihm unverstanden.
Der Stromgott.
Morgengraun. Die Karavane windet ſich dem Nil zur Seite,
Eine Rede dröhnt und murmelt über dunkler Stromesbreite.
Längs dem Ufer nippen durſtig ſilbergrau geperlte Tauben,
Trinken Ibiſſe mit blankem Flügelpaar und ſchwarzen Hauben.
Nil, der ſegenreiche Vater, ſorgt für alle ſeine Kinder,
Speiſt und tränkt aus ſeiner Fülle keines mehr und keines
minder —

Neben einem braunen Reiter ein gebundner Knabe wandelt,
Joſeph iſt's, den ſeine Brüder in die Sklaverei verhandelt.
Taub' und Ibis flattern nur um wenig Flügelſchläge weiter.
Joſeph lauſcht des Stromes Worten. Ruhig ſitzt der ſtumme Reiter.
„Knabe, deine Blicke trauern! Jüngling, deine Füße bluten!
Dich verkauften deine Brüder ... Sei willkomm an meinen
Fluten!

Joſeph, fremder Knabe Joſeph, du gefeſſelter, du müder,
Biſt du einſt der Herr der Ernten, ſpeiſe deine ſchlimmen Brüder!
Knabe Joſeph!“ rauſcht es dumpfer. Das erſtaunte Kind in Banden
Tröſtet ſich des güt'gen Grußes, bleibt er auch ihm unverſtanden.
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[191/0205] Der Stromgott. Morgengraun. Die Karavane windet ſich dem Nil zur Seite, Eine Rede dröhnt und murmelt über dunkler Stromesbreite. Längs dem Ufer nippen durſtig ſilbergrau geperlte Tauben, Trinken Ibiſſe mit blankem Flügelpaar und ſchwarzen Hauben. Nil, der ſegenreiche Vater, ſorgt für alle ſeine Kinder, Speiſt und tränkt aus ſeiner Fülle keines mehr und keines minder — Neben einem braunen Reiter ein gebundner Knabe wandelt, Joſeph iſt's, den ſeine Brüder in die Sklaverei verhandelt. Taub' und Ibis flattern nur um wenig Flügelſchläge weiter. Joſeph lauſcht des Stromes Worten. Ruhig ſitzt der ſtumme Reiter. „Knabe, deine Blicke trauern! Jüngling, deine Füße bluten! Dich verkauften deine Brüder ... Sei willkomm an meinen Fluten! Joſeph, fremder Knabe Joſeph, du gefeſſelter, du müder, Biſt du einſt der Herr der Ernten, ſpeiſe deine ſchlimmen Brüder! Knabe Joſeph!“ rauſcht es dumpfer. Das erſtaunte Kind in Banden Tröſtet ſich des güt'gen Grußes, bleibt er auch ihm unverſtanden.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/205>, abgerufen am 28.03.2024.