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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Bettlerballade.
Prinz Bertarit bewirthet Verona's Bettlerschaft
Mit Weizenbrot und Kuchen und edlem Traubensaft.
Gebeten ist ein Jeder, der sich mit Lumpen deckt,
Der, heischend auf den Brücken der Etsch, die Rechte reckt.
Auf edlen Marmorsesseln im Saale thronen sie,
Durch Riss' und Löcher gucken Ellbogen, Zeh' und Knie.
Nicht nach Geburt und Würden, sie sitzen grell gemischt,
Jetzt werden noch die Hasen und Hühner aufgetischt.
Der tastet nach dem Becher. Er durstet und ist blind.
Den Krüppel ohne Arme bedient ein frommes Kind.
Ein reizend stumpfes Näschen geckt unter strupp'gem Schopf,
Mit wildem Mosesbarte prahlt ein Charakterkopf.
Die Herzen sind gesättigt. Beginne, Musica!
Ein Dudelsack, ein Hackbrett und Geig' und Harf' ist da --
Der Prinz, noch schier ein Knabe, wie Gottes Engel schön,
Erhebt den vollen Becher und singt durch das Getön:
"Mit frisch gepflückten Rosen bekrön' ich mir das Haupt,
Des Reiches eh'rne Krone hat mir der Ohm geraubt.
Er ließ mir Tag und Sonne! Mein übrig Gut ist klein!
So will ich mit den Armen als Armer fröhlich sein!"
Ein Bettler stürzt ins Zimmer. "Grumell, wo kommst du her?"
Der Schreckensbleiche stammelt: "Ich lauscht' von ungefähr,
Gebettet an der Hofburg -- Dein Ohm schickt Mörder aus,
Nimm meinen braunen Mantel!" Erzschritt umdröhnt das Haus.
Bettlerballade.
Prinz Bertarit bewirthet Verona's Bettlerſchaft
Mit Weizenbrot und Kuchen und edlem Traubenſaft.
Gebeten iſt ein Jeder, der ſich mit Lumpen deckt,
Der, heiſchend auf den Brücken der Etſch, die Rechte reckt.
Auf edlen Marmorſeſſeln im Saale thronen ſie,
Durch Riſſ' und Löcher gucken Ellbogen, Zeh' und Knie.
Nicht nach Geburt und Würden, ſie ſitzen grell gemiſcht,
Jetzt werden noch die Haſen und Hühner aufgetiſcht.
Der taſtet nach dem Becher. Er durſtet und iſt blind.
Den Krüppel ohne Arme bedient ein frommes Kind.
Ein reizend ſtumpfes Näschen geckt unter ſtrupp'gem Schopf,
Mit wildem Moſesbarte prahlt ein Charakterkopf.
Die Herzen ſind geſättigt. Beginne, Muſica!
Ein Dudelſack, ein Hackbrett und Geig' und Harf' iſt da —
Der Prinz, noch ſchier ein Knabe, wie Gottes Engel ſchön,
Erhebt den vollen Becher und ſingt durch das Getön:
„Mit friſch gepflückten Roſen bekrön' ich mir das Haupt,
Des Reiches eh'rne Krone hat mir der Ohm geraubt.
Er ließ mir Tag und Sonne! Mein übrig Gut iſt klein!
So will ich mit den Armen als Armer fröhlich ſein!“
Ein Bettler ſtürzt ins Zimmer. „Grumell, wo kommſt du her?“
Der Schreckensbleiche ſtammelt: „Ich lauſcht' von ungefähr,
Gebettet an der Hofburg — Dein Ohm ſchickt Mörder aus,
Nimm meinen braunen Mantel!“ Erzſchritt umdröhnt das Haus.
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[222/0236] Bettlerballade. Prinz Bertarit bewirthet Verona's Bettlerſchaft Mit Weizenbrot und Kuchen und edlem Traubenſaft. Gebeten iſt ein Jeder, der ſich mit Lumpen deckt, Der, heiſchend auf den Brücken der Etſch, die Rechte reckt. Auf edlen Marmorſeſſeln im Saale thronen ſie, Durch Riſſ' und Löcher gucken Ellbogen, Zeh' und Knie. Nicht nach Geburt und Würden, ſie ſitzen grell gemiſcht, Jetzt werden noch die Haſen und Hühner aufgetiſcht. Der taſtet nach dem Becher. Er durſtet und iſt blind. Den Krüppel ohne Arme bedient ein frommes Kind. Ein reizend ſtumpfes Näschen geckt unter ſtrupp'gem Schopf, Mit wildem Moſesbarte prahlt ein Charakterkopf. Die Herzen ſind geſättigt. Beginne, Muſica! Ein Dudelſack, ein Hackbrett und Geig' und Harf' iſt da — Der Prinz, noch ſchier ein Knabe, wie Gottes Engel ſchön, Erhebt den vollen Becher und ſingt durch das Getön: „Mit friſch gepflückten Roſen bekrön' ich mir das Haupt, Des Reiches eh'rne Krone hat mir der Ohm geraubt. Er ließ mir Tag und Sonne! Mein übrig Gut iſt klein! So will ich mit den Armen als Armer fröhlich ſein!“ Ein Bettler ſtürzt ins Zimmer. „Grumell, wo kommſt du her?“ Der Schreckensbleiche ſtammelt: „Ich lauſcht' von ungefähr, Gebettet an der Hofburg — Dein Ohm ſchickt Mörder aus, Nimm meinen braunen Mantel!“ Erzſchritt umdröhnt das Haus.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/236>, abgerufen am 16.04.2024.