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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Ohne Datum.

(An meine Schwester.)

Du scherzest, daß ein Datum ich vergaß,
Und meinst, ich dürfte bei dem Stundenmaß
Mit einem Federstriche mich verweilen.
Du schreibst: "Datire künftig deine Zeilen!"
Doch war das Zählen meine Sache nie,
Nach dem Wievielten such' ich stets vergebens,
Auch diese Zeilen, wie datir' ich sie?
"Aus allen Augenblicken meines Lebens!"
Kurz ist und eilig eines Menschen Tag,
Er drängt, er pulst, er flutet, Schlag um Schlag,
Wie eines Herzens ungestümes Klopfen ...
Wer teilt die Jagd des Bluts und seiner Tropfen?
Es ist ein Sturm, der nie zur Rüste geht,
Die Wechselglut des Nehmens und des Gebens,
Und meine Haare flattern windverweht
In allen Augenblicken meines Lebens.
Zu ruhn ist mir versagt, es treibt mich fort,
Die Stunde rennt -- doch hab' ich einen Hort,
Den keine mir entführt, in deiner Treue;
Sie ist die alte wie die ewig neue,
Sie ist die Rast in dieser Flucht und Flut,
Ein fromm Geleite leisen Flügelschwebens,
Sie ist der Segen, der beständig ruht
Auf allen Augenblicken meines Lebens.
Ohne Datum.

(An meine Schweſter.)

Du ſcherzeſt, daß ein Datum ich vergaß,
Und meinſt, ich dürfte bei dem Stundenmaß
Mit einem Federſtriche mich verweilen.
Du ſchreibſt: „Datire künftig deine Zeilen!“
Doch war das Zählen meine Sache nie,
Nach dem Wievielten ſuch' ich ſtets vergebens,
Auch dieſe Zeilen, wie datir' ich ſie?
„Aus allen Augenblicken meines Lebens!“
Kurz iſt und eilig eines Menſchen Tag,
Er drängt, er pulſt, er flutet, Schlag um Schlag,
Wie eines Herzens ungeſtümes Klopfen ...
Wer teilt die Jagd des Bluts und ſeiner Tropfen?
Es iſt ein Sturm, der nie zur Rüſte geht,
Die Wechſelglut des Nehmens und des Gebens,
Und meine Haare flattern windverweht
In allen Augenblicken meines Lebens.
Zu ruhn iſt mir verſagt, es treibt mich fort,
Die Stunde rennt — doch hab' ich einen Hort,
Den keine mir entführt, in deiner Treue;
Sie iſt die alte wie die ewig neue,
Sie iſt die Raſt in dieſer Flucht und Flut,
Ein fromm Geleite leiſen Flügelſchwebens,
Sie iſt der Segen, der beſtändig ruht
Auf allen Augenblicken meines Lebens.
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[154/0168] Ohne Datum. (An meine Schweſter.) Du ſcherzeſt, daß ein Datum ich vergaß, Und meinſt, ich dürfte bei dem Stundenmaß Mit einem Federſtriche mich verweilen. Du ſchreibſt: „Datire künftig deine Zeilen!“ Doch war das Zählen meine Sache nie, Nach dem Wievielten ſuch' ich ſtets vergebens, Auch dieſe Zeilen, wie datir' ich ſie? „Aus allen Augenblicken meines Lebens!“ Kurz iſt und eilig eines Menſchen Tag, Er drängt, er pulſt, er flutet, Schlag um Schlag, Wie eines Herzens ungeſtümes Klopfen ... Wer teilt die Jagd des Bluts und ſeiner Tropfen? Es iſt ein Sturm, der nie zur Rüſte geht, Die Wechſelglut des Nehmens und des Gebens, Und meine Haare flattern windverweht In allen Augenblicken meines Lebens. Zu ruhn iſt mir verſagt, es treibt mich fort, Die Stunde rennt — doch hab' ich einen Hort, Den keine mir entführt, in deiner Treue; Sie iſt die alte wie die ewig neue, Sie iſt die Raſt in dieſer Flucht und Flut, Ein fromm Geleite leiſen Flügelſchwebens, Sie iſt der Segen, der beſtändig ruht Auf allen Augenblicken meines Lebens.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/168>, abgerufen am 25.04.2024.