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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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Erstes Kapitel.

Auf einer Erhöhung des linken Rheinufers am
Fuße des lieblichen Heinzenbergs überschauen die Mäuer¬
lein und anspruchslosen Gebäude des Frauenklosters
Cazis die Hütten eines dem katholischen Glauben zu¬
gethan gebliebenen Dorfes. Am schmalen Bogenfenster
einer Zelle, die nach dem grauen, jetzt vom Morgen¬
lichte beschienenen Schloßthurme von Riedberg hinüber¬
schaute, saß die schöne Lucretia Planta.

Der Frühling war vorübergegangen. Auch auf
der Nordseite der rhätischen Alpen hatte der laue Föhn
schon längst den Schnee von den Halden weggeschmol¬
zen und in tobenden Wildbächen dem Rheine zugeführt.
Durch die Felsspalten der Via mala hatte der Süd¬
sturm gebraust mit dem jugendlich unbändigen Strome
um die Wette. Wochenlang hatte der schäumende Rhein
zornig an seinen engen Kerkerwänden gerüttelt und

Erſtes Kapitel.

Auf einer Erhöhung des linken Rheinufers am
Fuße des lieblichen Heinzenbergs überſchauen die Mäuer¬
lein und anſpruchsloſen Gebäude des Frauenkloſters
Cazis die Hütten eines dem katholiſchen Glauben zu¬
gethan gebliebenen Dorfes. Am ſchmalen Bogenfenſter
einer Zelle, die nach dem grauen, jetzt vom Morgen¬
lichte beſchienenen Schloßthurme von Riedberg hinüber¬
ſchaute, ſaß die ſchöne Lucretia Planta.

Der Frühling war vorübergegangen. Auch auf
der Nordſeite der rhätiſchen Alpen hatte der laue Föhn
ſchon längſt den Schnee von den Halden weggeſchmol¬
zen und in tobenden Wildbächen dem Rheine zugeführt.
Durch die Felsſpalten der Via mala hatte der Süd¬
ſturm gebrauſt mit dem jugendlich unbändigen Strome
um die Wette. Wochenlang hatte der ſchäumende Rhein
zornig an ſeinen engen Kerkerwänden gerüttelt und

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[0223] Erſtes Kapitel. Auf einer Erhöhung des linken Rheinufers am Fuße des lieblichen Heinzenbergs überſchauen die Mäuer¬ lein und anſpruchsloſen Gebäude des Frauenkloſters Cazis die Hütten eines dem katholiſchen Glauben zu¬ gethan gebliebenen Dorfes. Am ſchmalen Bogenfenſter einer Zelle, die nach dem grauen, jetzt vom Morgen¬ lichte beſchienenen Schloßthurme von Riedberg hinüber¬ ſchaute, ſaß die ſchöne Lucretia Planta. Der Frühling war vorübergegangen. Auch auf der Nordſeite der rhätiſchen Alpen hatte der laue Föhn ſchon längſt den Schnee von den Halden weggeſchmol¬ zen und in tobenden Wildbächen dem Rheine zugeführt. Durch die Felsſpalten der Via mala hatte der Süd¬ ſturm gebrauſt mit dem jugendlich unbändigen Strome um die Wette. Wochenlang hatte der ſchäumende Rhein zornig an ſeinen engen Kerkerwänden gerüttelt und

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/223>, abgerufen am 24.04.2024.