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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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entnommene Verfassung, und sei es auch die Belgische, ihrem
Volke gemäß ist? Und hätten wir nur die Belgische, deren Ar-
tikel 25. besagt: "Alle Gewalten gehen von dem Volke aus," -- die
mit ihren klaren und deutlichen Gewährungen jeder Hinterthür
den Weg versperrt. Es ist also nicht nur die Form, in welcher
diese Verfassung uns geboten ist, wogegen wir uns verwahren
müssen; es ist vor Allem der Jnhalt. Daß er revidirt werden
soll, ändert an der Sache nichts. Soll diese Revision eine zweite
Vereinbarung sein, wie es wegen der Aufschiebung der Vereidi-
gung auf dieselbe scheint, nachdem die erste Vereinbarung miß-
glückte: so ist auch hier das Recht verletzt, da nach dem Erlaß vom
2. April 1848 die Krone selbst für eine die Verfassung vereinba-
rende Versammlung "eine Theilung in Kammern" für nicht zu-
lässig erachtete. Und was ist dies für eine erste Kammer? Sie
verbindet die unmittelbare und mittelbare Schätzung noch mit der
Bevormundung der mittelbaren Wahl. Konnte nicht für diese bevorzug-
ten Wähler wenigstens die unmittelbare Wahl eintreten? Sind auch
diese noch nicht mündig? Und welches Vorrecht haben die Wähler
ärmerer Bezirke, deren Zahl sich nur auf Tausend beläuft, daß
ihrer staatlichen Reife die unmittelbare Wahl zugestanden wird?

Was nun den Jnhalt der Verfassung selbst betrifft, so
will ich mich hier nur auf wenige Bemerkungen beschränken. Die
aufgedrungene Verfassung erkennt in ihrem 5. Artikel das Ge-
setz vom 24. September 1848 zum Schutz der persönlichen Frei-
heit an. Nach demselben kann aber nur die Unverletzlichkeit der
persönlichen Freiheit und der Wohnung durch einen Belagerungs-
zustand aufgehoben, nicht Ausnahmegerichte wieder eingeführt wer-
den (§. 5.). Das mußte auch im Bewußtsein des Verfassers
der "Urkunde" gelegen haben. Denn im Artikel 7. derselben,
welcher Ausnahmegerichte für unstatthaft erklärt, sieht er sich ver-
anlaßt, durch den Zwischensatz: "so weit sie nicht durch diese
Verfassungsurkunde für zulässig erklärt werden," den §. 5. des
Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit auch ausdrücklich
ohne Weiteres wieder aufzuheben. Dieser Zusatz war aber ganz
unnöthig, indem nach Artikel 110. der Verfassung ohnedies der
ganze Artikel 7. und noch eine Reihe anderer zu unserem Schrek-
ken zeitweilig aufgehoben werden können. Ja, wenn bei Aufhe-

entnommene Verfaſſung, und ſei es auch die Belgiſche, ihrem
Volke gemäß iſt? Und hätten wir nur die Belgiſche, deren Ar-
tikel 25. beſagt: „Alle Gewalten gehen von dem Volke aus,‟ — die
mit ihren klaren und deutlichen Gewährungen jeder Hinterthür
den Weg verſperrt. Es iſt alſo nicht nur die Form, in welcher
dieſe Verfaſſung uns geboten iſt, wogegen wir uns verwahren
müſſen; es iſt vor Allem der Jnhalt. Daß er revidirt werden
ſoll, ändert an der Sache nichts. Soll dieſe Reviſion eine zweite
Vereinbarung ſein, wie es wegen der Aufſchiebung der Vereidi-
gung auf dieſelbe ſcheint, nachdem die erſte Vereinbarung miß-
glückte: ſo iſt auch hier das Recht verletzt, da nach dem Erlaß vom
2. April 1848 die Krone ſelbſt für eine die Verfaſſung vereinba-
rende Verſammlung „eine Theilung in Kammern‟ für nicht zu-
läſſig erachtete. Und was iſt dies für eine erſte Kammer? Sie
verbindet die unmittelbare und mittelbare Schätzung noch mit der
Bevormundung der mittelbaren Wahl. Konnte nicht für dieſe bevorzug-
ten Wähler wenigſtens die unmittelbare Wahl eintreten? Sind auch
dieſe noch nicht mündig? Und welches Vorrecht haben die Wähler
ärmerer Bezirke, deren Zahl ſich nur auf Tauſend beläuft, daß
ihrer ſtaatlichen Reife die unmittelbare Wahl zugeſtanden wird?

Was nun den Jnhalt der Verfaſſung ſelbſt betrifft, ſo
will ich mich hier nur auf wenige Bemerkungen beſchränken. Die
aufgedrungene Verfaſſung erkennt in ihrem 5. Artikel das Ge-
ſetz vom 24. September 1848 zum Schutz der perſönlichen Frei-
heit an. Nach demſelben kann aber nur die Unverletzlichkeit der
perſönlichen Freiheit und der Wohnung durch einen Belagerungs-
zuſtand aufgehoben, nicht Ausnahmegerichte wieder eingeführt wer-
den (§. 5.). Das mußte auch im Bewußtſein des Verfaſſers
der „Urkunde‟ gelegen haben. Denn im Artikel 7. derſelben,
welcher Ausnahmegerichte für unſtatthaft erklärt, ſieht er ſich ver-
anlaßt, durch den Zwiſchenſatz: „ſo weit ſie nicht durch dieſe
Verfaſſungsurkunde für zuläſſig erklärt werden,‟ den §. 5. des
Geſetzes zum Schutz der perſönlichen Freiheit auch ausdrücklich
ohne Weiteres wieder aufzuheben. Dieſer Zuſatz war aber ganz
unnöthig, indem nach Artikel 110. der Verfaſſung ohnedies der
ganze Artikel 7. und noch eine Reihe anderer zu unſerem Schrek-
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[23/0033] entnommene Verfaſſung, und ſei es auch die Belgiſche, ihrem Volke gemäß iſt? Und hätten wir nur die Belgiſche, deren Ar- tikel 25. beſagt: „Alle Gewalten gehen von dem Volke aus,‟ — die mit ihren klaren und deutlichen Gewährungen jeder Hinterthür den Weg verſperrt. Es iſt alſo nicht nur die Form, in welcher dieſe Verfaſſung uns geboten iſt, wogegen wir uns verwahren müſſen; es iſt vor Allem der Jnhalt. Daß er revidirt werden ſoll, ändert an der Sache nichts. Soll dieſe Reviſion eine zweite Vereinbarung ſein, wie es wegen der Aufſchiebung der Vereidi- gung auf dieſelbe ſcheint, nachdem die erſte Vereinbarung miß- glückte: ſo iſt auch hier das Recht verletzt, da nach dem Erlaß vom 2. April 1848 die Krone ſelbſt für eine die Verfaſſung vereinba- rende Verſammlung „eine Theilung in Kammern‟ für nicht zu- läſſig erachtete. Und was iſt dies für eine erſte Kammer? Sie verbindet die unmittelbare und mittelbare Schätzung noch mit der Bevormundung der mittelbaren Wahl. Konnte nicht für dieſe bevorzug- ten Wähler wenigſtens die unmittelbare Wahl eintreten? Sind auch dieſe noch nicht mündig? Und welches Vorrecht haben die Wähler ärmerer Bezirke, deren Zahl ſich nur auf Tauſend beläuft, daß ihrer ſtaatlichen Reife die unmittelbare Wahl zugeſtanden wird? Was nun den Jnhalt der Verfaſſung ſelbſt betrifft, ſo will ich mich hier nur auf wenige Bemerkungen beſchränken. Die aufgedrungene Verfaſſung erkennt in ihrem 5. Artikel das Ge- ſetz vom 24. September 1848 zum Schutz der perſönlichen Frei- heit an. Nach demſelben kann aber nur die Unverletzlichkeit der perſönlichen Freiheit und der Wohnung durch einen Belagerungs- zuſtand aufgehoben, nicht Ausnahmegerichte wieder eingeführt wer- den (§. 5.). Das mußte auch im Bewußtſein des Verfaſſers der „Urkunde‟ gelegen haben. Denn im Artikel 7. derſelben, welcher Ausnahmegerichte für unſtatthaft erklärt, ſieht er ſich ver- anlaßt, durch den Zwiſchenſatz: „ſo weit ſie nicht durch dieſe Verfaſſungsurkunde für zuläſſig erklärt werden,‟ den §. 5. des Geſetzes zum Schutz der perſönlichen Freiheit auch ausdrücklich ohne Weiteres wieder aufzuheben. Dieſer Zuſatz war aber ganz unnöthig, indem nach Artikel 110. der Verfaſſung ohnedies der ganze Artikel 7. und noch eine Reihe anderer zu unſerem Schrek- ken zeitweilig aufgehoben werden können. Ja, wenn bei Aufhe-

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/33>, abgerufen am 28.03.2024.