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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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vaignac trat wenigstens unter der Gleichgültigkeit der Franzosen
von der Spitze der Regierung ab; und doch ermächtigten ihn die
Vertreter des Volks zur Verhängung des Belagerungszustandes.
Jn dem Lande der Erbweisheit darf kein Soldat in die City
ohne die Erlaubniß der Stadtbehörden. Ohne das verfassungs-
mäßige Recht der Volksvertretung, selbst die Truppenzahl zu be-
stimmen, welche sie zu ihrem Schutze am Orte ihrer Sitzun-
gen haben will, ist die Unabhängigkeit ihrer Berathungen nicht
gesichert. Unsere Minister haben den Belagerungszustand gegen den
Willen der Volksvertreter verhängt. Und nach fast fünf Monaten
haben sie noch nicht Rechenschaft abgelegt, zögern immer noch damit,
obgleich die Kammern schon fünf Wochen versammelt sind. Wer
sich aber rechtfertigen muß, kann auch ungerechtfertigt aus den
Verhandlungen hervorgehen; so daß die Anklage des Volkes im-
mer noch über den Häuptern der Minister schwebt!

Einen so ungeheuerlichen Artikel, als den 105., kennt wohl
keine Verfassung: "Wenn die Kammern nicht versammelt sind,
können in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des ge-
sammten Staatsministeriums, Verordnungen mit Gesetzeskraft er-
lassen werden; dieselben sind aber den Kammern bei ihrem näch-
sten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen." Wozu
ist dann der Zusatz zu der regelmäßigen Berufung der Kammern
im Artikel 75.: "und außerdem, so oft es die Umstände erhei-
schen"? Etwa um ein Anlehen zu machen? Sollte dazu der
Artikel 105. nicht vollkommen ausreichen? Thut er es, nun
dann würde uns ja die ohne die Gesetzgebung zu eröffnende An-
leihe in Kriegszeiten, die dem ersten Vereinigten Landtage schon
so viel Sorge machte, hier in einer "Preußischen Verfassungs-
Urkunde" nach der März-Umwälzung geboten. Den Kammern
sollen solche Verordnungen zwar später zur Genehmigung vorge-
legt werden. Können sie dieselben aber noch verwerfen, nachdem sie
vielleicht schon mehrere Monate in Wirksamkeit gewesen, und Rechts-
verhältnisse daraus entsprungen sind? Wenn sie es thun, und die
Krone die Verkündigung dieses Beschlusses verweigert, welches Gesetz
gilt dann, das alte oder die Verordnung? Und dürfen die Kammern
-- oder auch nur Eine -- solche Verordnung nicht mehr verwerfen, ist
dann die ganze gesetzgeberische Thätigkeit der Volksvertreter nicht

vaignac trat wenigſtens unter der Gleichgültigkeit der Franzoſen
von der Spitze der Regierung ab; und doch ermächtigten ihn die
Vertreter des Volks zur Verhängung des Belagerungszuſtandes.
Jn dem Lande der Erbweisheit darf kein Soldat in die City
ohne die Erlaubniß der Stadtbehörden. Ohne das verfaſſungs-
mäßige Recht der Volksvertretung, ſelbſt die Truppenzahl zu be-
ſtimmen, welche ſie zu ihrem Schutze am Orte ihrer Sitzun-
gen haben will, iſt die Unabhängigkeit ihrer Berathungen nicht
geſichert. Unſere Miniſter haben den Belagerungszuſtand gegen den
Willen der Volksvertreter verhängt. Und nach faſt fünf Monaten
haben ſie noch nicht Rechenſchaft abgelegt, zögern immer noch damit,
obgleich die Kammern ſchon fünf Wochen verſammelt ſind. Wer
ſich aber rechtfertigen muß, kann auch ungerechtfertigt aus den
Verhandlungen hervorgehen; ſo daß die Anklage des Volkes im-
mer noch über den Häuptern der Miniſter ſchwebt!

Einen ſo ungeheuerlichen Artikel, als den 105., kennt wohl
keine Verfaſſung: „Wenn die Kammern nicht verſammelt ſind,
können in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des ge-
ſammten Staatsminiſteriums, Verordnungen mit Geſetzeskraft er-
laſſen werden; dieſelben ſind aber den Kammern bei ihrem näch-
ſten Zuſammentritt zur Genehmigung ſofort vorzulegen.‟ Wozu
iſt dann der Zuſatz zu der regelmäßigen Berufung der Kammern
im Artikel 75.: „und außerdem, ſo oft es die Umſtände erhei-
ſchen‟? Etwa um ein Anlehen zu machen? Sollte dazu der
Artikel 105. nicht vollkommen ausreichen? Thut er es, nun
dann würde uns ja die ohne die Geſetzgebung zu eröffnende An-
leihe in Kriegszeiten, die dem erſten Vereinigten Landtage ſchon
ſo viel Sorge machte, hier in einer „Preußiſchen Verfaſſungs-
Urkunde‟ nach der März-Umwälzung geboten. Den Kammern
ſollen ſolche Verordnungen zwar ſpäter zur Genehmigung vorge-
legt werden. Können ſie dieſelben aber noch verwerfen, nachdem ſie
vielleicht ſchon mehrere Monate in Wirkſamkeit geweſen, und Rechts-
verhältniſſe daraus entſprungen ſind? Wenn ſie es thun, und die
Krone die Verkündigung dieſes Beſchluſſes verweigert, welches Geſetz
gilt dann, das alte oder die Verordnung? Und dürfen die Kammern
— oder auch nur Eine — ſolche Verordnung nicht mehr verwerfen, iſt
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[27/0037] vaignac trat wenigſtens unter der Gleichgültigkeit der Franzoſen von der Spitze der Regierung ab; und doch ermächtigten ihn die Vertreter des Volks zur Verhängung des Belagerungszuſtandes. Jn dem Lande der Erbweisheit darf kein Soldat in die City ohne die Erlaubniß der Stadtbehörden. Ohne das verfaſſungs- mäßige Recht der Volksvertretung, ſelbſt die Truppenzahl zu be- ſtimmen, welche ſie zu ihrem Schutze am Orte ihrer Sitzun- gen haben will, iſt die Unabhängigkeit ihrer Berathungen nicht geſichert. Unſere Miniſter haben den Belagerungszuſtand gegen den Willen der Volksvertreter verhängt. Und nach faſt fünf Monaten haben ſie noch nicht Rechenſchaft abgelegt, zögern immer noch damit, obgleich die Kammern ſchon fünf Wochen verſammelt ſind. Wer ſich aber rechtfertigen muß, kann auch ungerechtfertigt aus den Verhandlungen hervorgehen; ſo daß die Anklage des Volkes im- mer noch über den Häuptern der Miniſter ſchwebt! Einen ſo ungeheuerlichen Artikel, als den 105., kennt wohl keine Verfaſſung: „Wenn die Kammern nicht verſammelt ſind, können in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des ge- ſammten Staatsminiſteriums, Verordnungen mit Geſetzeskraft er- laſſen werden; dieſelben ſind aber den Kammern bei ihrem näch- ſten Zuſammentritt zur Genehmigung ſofort vorzulegen.‟ Wozu iſt dann der Zuſatz zu der regelmäßigen Berufung der Kammern im Artikel 75.: „und außerdem, ſo oft es die Umſtände erhei- ſchen‟? Etwa um ein Anlehen zu machen? Sollte dazu der Artikel 105. nicht vollkommen ausreichen? Thut er es, nun dann würde uns ja die ohne die Geſetzgebung zu eröffnende An- leihe in Kriegszeiten, die dem erſten Vereinigten Landtage ſchon ſo viel Sorge machte, hier in einer „Preußiſchen Verfaſſungs- Urkunde‟ nach der März-Umwälzung geboten. Den Kammern ſollen ſolche Verordnungen zwar ſpäter zur Genehmigung vorge- legt werden. Können ſie dieſelben aber noch verwerfen, nachdem ſie vielleicht ſchon mehrere Monate in Wirkſamkeit geweſen, und Rechts- verhältniſſe daraus entſprungen ſind? Wenn ſie es thun, und die Krone die Verkündigung dieſes Beſchluſſes verweigert, welches Geſetz gilt dann, das alte oder die Verordnung? Und dürfen die Kammern — oder auch nur Eine — ſolche Verordnung nicht mehr verwerfen, iſt dann die ganze geſetzgeberiſche Thätigkeit der Volksvertreter nicht

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/37>, abgerufen am 19.04.2024.