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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Der Abend war einer der schönsten. Sie kamen
aus einem kühlen Wald' heraus, wo die Gra-
semücken, Amseln, und Nachtigallen in Gesängen
wetteiferten, und die Holztauben drein gurrten.
Das Dunkel des Waldes, und der melancholische
Gesang der Amsel hatten die Seele des jungen
Siegwart zum Wehmütigen und Feyerlichen ge-
stimmt, worein ihn das ernsihafte Gespräch seines
Vaters über die Schönheit der Natur und die
Liebe des Schöpfers noch mehr versenkte. Jhr
Gespräch kam auf das Kloster. Du wirst, mein
Sohn, viel ehrwürdige Leute drinnen antreffen; gu-
te ehrliche Männer, die die Thorheiten und Be-
trügereyen der Welt kennen lernten, und sich bey
Zeiten von ihr los machten, um im Frieden Gott
zu dienen, ihr Herz zu bessern, und sich für die
Ewigkeit vorzubereiten. So ist mein Freund, der
alte Pater Anton, der deine ganze Hochachtung
verdient; aber nicht alle Paters denken so;
andre werden dir weniger gefallen. Jch sage dir
dieses nur, damit du dich nicht daran stössest, und
nicht lauter Engel drinnen suchst. -- Es ist ei-
ne eigne Sache um das Mönchsleben. Eigentlich
sollten nur Leute da seyn, die den Menschen sonst
nicht mehr dienen können. Doch, das geht uns



Der Abend war einer der ſchoͤnſten. Sie kamen
aus einem kuͤhlen Wald’ heraus, wo die Gra-
ſemuͤcken, Amſeln, und Nachtigallen in Geſaͤngen
wetteiferten, und die Holztauben drein gurrten.
Das Dunkel des Waldes, und der melancholiſche
Geſang der Amſel hatten die Seele des jungen
Siegwart zum Wehmuͤtigen und Feyerlichen ge-
ſtimmt, worein ihn das ernſihafte Geſpraͤch ſeines
Vaters uͤber die Schoͤnheit der Natur und die
Liebe des Schoͤpfers noch mehr verſenkte. Jhr
Geſpraͤch kam auf das Kloſter. Du wirſt, mein
Sohn, viel ehrwuͤrdige Leute drinnen antreffen; gu-
te ehrliche Maͤnner, die die Thorheiten und Be-
truͤgereyen der Welt kennen lernten, und ſich bey
Zeiten von ihr los machten, um im Frieden Gott
zu dienen, ihr Herz zu beſſern, und ſich fuͤr die
Ewigkeit vorzubereiten. So iſt mein Freund, der
alte Pater Anton, der deine ganze Hochachtung
verdient; aber nicht alle Paters denken ſo;
andre werden dir weniger gefallen. Jch ſage dir
dieſes nur, damit du dich nicht daran ſtoͤſſeſt, und
nicht lauter Engel drinnen ſuchſt. — Es iſt ei-
ne eigne Sache um das Moͤnchsleben. Eigentlich
ſollten nur Leute da ſeyn, die den Menſchen ſonſt
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[12/0016] Der Abend war einer der ſchoͤnſten. Sie kamen aus einem kuͤhlen Wald’ heraus, wo die Gra- ſemuͤcken, Amſeln, und Nachtigallen in Geſaͤngen wetteiferten, und die Holztauben drein gurrten. Das Dunkel des Waldes, und der melancholiſche Geſang der Amſel hatten die Seele des jungen Siegwart zum Wehmuͤtigen und Feyerlichen ge- ſtimmt, worein ihn das ernſihafte Geſpraͤch ſeines Vaters uͤber die Schoͤnheit der Natur und die Liebe des Schoͤpfers noch mehr verſenkte. Jhr Geſpraͤch kam auf das Kloſter. Du wirſt, mein Sohn, viel ehrwuͤrdige Leute drinnen antreffen; gu- te ehrliche Maͤnner, die die Thorheiten und Be- truͤgereyen der Welt kennen lernten, und ſich bey Zeiten von ihr los machten, um im Frieden Gott zu dienen, ihr Herz zu beſſern, und ſich fuͤr die Ewigkeit vorzubereiten. So iſt mein Freund, der alte Pater Anton, der deine ganze Hochachtung verdient; aber nicht alle Paters denken ſo; andre werden dir weniger gefallen. Jch ſage dir dieſes nur, damit du dich nicht daran ſtoͤſſeſt, und nicht lauter Engel drinnen ſuchſt. — Es iſt ei- ne eigne Sache um das Moͤnchsleben. Eigentlich ſollten nur Leute da ſeyn, die den Menſchen ſonſt nicht mehr dienen koͤnnen. Doch, das geht uns

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/16>, abgerufen am 19.04.2024.