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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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der aufgebrachten Leidenschaft entschlossen, ihr auf
ewig zu entsagen, und ein Gelübde zu beschwören,
welches sie nachher so oft bereut hatten. Sie
glaubten, dem Elend zu entgehen, und fanden
neues grössres Elend. Wie mancher beweinte jetzt
noch die Stunde des Taumels und der Trunkenheit
der Seele, worein ihn der Pomp eines Klosters,
die feyerliche und himmlische Musik der Väter,
die Ruhe und die Heiterkeit, die auf ihren Ange-
sichtern zu wohnen schien, versetzt, und die den Ent-
schluß, den falsche, oder einfältige Freunde noch be-
stärkten, hervorgebracht hatte, nach der gemeinen
Redensart, die Welt zu verlassen. Nun wüthete
die Melancholie in ihrer Seele, die jene Väter in
der Gegenwart von Fremden immer hinter der Mi-
ne der Heiterkeit und Ruhe zu verbergen wusten.
Sie kannten nun kein ander Glück mehr als den
Tod, um den sie mit stummen Thränen, und mit
unterdrückten Seufzern zu Gott beteten.

Jn einem solchen Taumel, der sie ehedem ins
Kloster getrieben hatte, schwamm jetzt unser junger
Siegwart, der den langen Gang hinab mit seinem
Vater und dem guten Pater Anton, dem kleinen
dunkeln Tannenwäldchen zugieng, das den Kloster-
garten begränzte. Die beyden Freunde giengen



der aufgebrachten Leidenſchaft entſchloſſen, ihr auf
ewig zu entſagen, und ein Geluͤbde zu beſchwoͤren,
welches ſie nachher ſo oft bereut hatten. Sie
glaubten, dem Elend zu entgehen, und fanden
neues groͤſſres Elend. Wie mancher beweinte jetzt
noch die Stunde des Taumels und der Trunkenheit
der Seele, worein ihn der Pomp eines Kloſters,
die feyerliche und himmliſche Muſik der Vaͤter,
die Ruhe und die Heiterkeit, die auf ihren Ange-
ſichtern zu wohnen ſchien, verſetzt, und die den Ent-
ſchluß, den falſche, oder einfaͤltige Freunde noch be-
ſtaͤrkten, hervorgebracht hatte, nach der gemeinen
Redensart, die Welt zu verlaſſen. Nun wuͤthete
die Melancholie in ihrer Seele, die jene Vaͤter in
der Gegenwart von Fremden immer hinter der Mi-
ne der Heiterkeit und Ruhe zu verbergen wuſten.
Sie kannten nun kein ander Gluͤck mehr als den
Tod, um den ſie mit ſtummen Thraͤnen, und mit
unterdruͤckten Seufzern zu Gott beteten.

Jn einem ſolchen Taumel, der ſie ehedem ins
Kloſter getrieben hatte, ſchwamm jetzt unſer junger
Siegwart, der den langen Gang hinab mit ſeinem
Vater und dem guten Pater Anton, dem kleinen
dunkeln Tannenwaͤldchen zugieng, das den Kloſter-
garten begraͤnzte. Die beyden Freunde giengen

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[18/0022] der aufgebrachten Leidenſchaft entſchloſſen, ihr auf ewig zu entſagen, und ein Geluͤbde zu beſchwoͤren, welches ſie nachher ſo oft bereut hatten. Sie glaubten, dem Elend zu entgehen, und fanden neues groͤſſres Elend. Wie mancher beweinte jetzt noch die Stunde des Taumels und der Trunkenheit der Seele, worein ihn der Pomp eines Kloſters, die feyerliche und himmliſche Muſik der Vaͤter, die Ruhe und die Heiterkeit, die auf ihren Ange- ſichtern zu wohnen ſchien, verſetzt, und die den Ent- ſchluß, den falſche, oder einfaͤltige Freunde noch be- ſtaͤrkten, hervorgebracht hatte, nach der gemeinen Redensart, die Welt zu verlaſſen. Nun wuͤthete die Melancholie in ihrer Seele, die jene Vaͤter in der Gegenwart von Fremden immer hinter der Mi- ne der Heiterkeit und Ruhe zu verbergen wuſten. Sie kannten nun kein ander Gluͤck mehr als den Tod, um den ſie mit ſtummen Thraͤnen, und mit unterdruͤckten Seufzern zu Gott beteten. Jn einem ſolchen Taumel, der ſie ehedem ins Kloſter getrieben hatte, ſchwamm jetzt unſer junger Siegwart, der den langen Gang hinab mit ſeinem Vater und dem guten Pater Anton, dem kleinen dunkeln Tannenwaͤldchen zugieng, das den Kloſter- garten begraͤnzte. Die beyden Freunde giengen

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/22>, abgerufen am 25.04.2024.