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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Hand in Hand, und vertieften sich in vertrauliche
Gespräche, wozu sie die schweigende Frühlingsnacht
einlud. Lauschend gieng der junge Siegwart ne-
ben her. Sie kamen nun ans Tannenwäldchen,
dessen Wipfel in der Abendluft sanft säuselten; hin-
ten, wo der Wald am dunkelsten war, setzten sie
sich in die kühle Grotte, neben der ein kleiner Bach
vorbeyrieselte.

Hier sitz ich nun, sagte Pater Anton, seit
vierzig Jahren jeden schönen Frühlings- oder Som-
merabend, und überdenke da mein Tagwerk und
die Führungen des Himmels. Oft, mein guter
Siegwart, denk ich auch an dich, und die Tage,
die wir in der Welt zusammen lebten. Ach, wie ist
mein Herz seitdem so ruhig geworden! Du weist,
Lieber, was ich ausgestanden habe; wie das Un-
glück über mich her stürmte; wie die Menschen
mich verfolgten; und wie viel ich mit mir selbst
und meinen Leidenschaften zu kämpfen hatte! --
Hier sprach er leiser, und mit mehr gebrochner
Stimme. -- Man hat lang zu streiten, bis man
sich von allen Schlacken losreist, zumal wenn das
Herz den Eindrücken der Sinnlichkeit offen, und
heftig ist. Jch glaube, daß man fast nur in der
Einsamkeit dazu gelangen, seine Seele reinigen,



Hand in Hand, und vertieften ſich in vertrauliche
Geſpraͤche, wozu ſie die ſchweigende Fruͤhlingsnacht
einlud. Lauſchend gieng der junge Siegwart ne-
ben her. Sie kamen nun ans Tannenwaͤldchen,
deſſen Wipfel in der Abendluft ſanft ſaͤuſelten; hin-
ten, wo der Wald am dunkelſten war, ſetzten ſie
ſich in die kuͤhle Grotte, neben der ein kleiner Bach
vorbeyrieſelte.

Hier ſitz ich nun, ſagte Pater Anton, ſeit
vierzig Jahren jeden ſchoͤnen Fruͤhlings- oder Som-
merabend, und uͤberdenke da mein Tagwerk und
die Fuͤhrungen des Himmels. Oft, mein guter
Siegwart, denk ich auch an dich, und die Tage,
die wir in der Welt zuſammen lebten. Ach, wie iſt
mein Herz ſeitdem ſo ruhig geworden! Du weiſt,
Lieber, was ich ausgeſtanden habe; wie das Un-
gluͤck uͤber mich her ſtuͤrmte; wie die Menſchen
mich verfolgten; und wie viel ich mit mir ſelbſt
und meinen Leidenſchaften zu kaͤmpfen hatte! —
Hier ſprach er leiſer, und mit mehr gebrochner
Stimme. — Man hat lang zu ſtreiten, bis man
ſich von allen Schlacken losreiſt, zumal wenn das
Herz den Eindruͤcken der Sinnlichkeit offen, und
heftig iſt. Jch glaube, daß man faſt nur in der
Einſamkeit dazu gelangen, ſeine Seele reinigen,

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[19/0023] Hand in Hand, und vertieften ſich in vertrauliche Geſpraͤche, wozu ſie die ſchweigende Fruͤhlingsnacht einlud. Lauſchend gieng der junge Siegwart ne- ben her. Sie kamen nun ans Tannenwaͤldchen, deſſen Wipfel in der Abendluft ſanft ſaͤuſelten; hin- ten, wo der Wald am dunkelſten war, ſetzten ſie ſich in die kuͤhle Grotte, neben der ein kleiner Bach vorbeyrieſelte. Hier ſitz ich nun, ſagte Pater Anton, ſeit vierzig Jahren jeden ſchoͤnen Fruͤhlings- oder Som- merabend, und uͤberdenke da mein Tagwerk und die Fuͤhrungen des Himmels. Oft, mein guter Siegwart, denk ich auch an dich, und die Tage, die wir in der Welt zuſammen lebten. Ach, wie iſt mein Herz ſeitdem ſo ruhig geworden! Du weiſt, Lieber, was ich ausgeſtanden habe; wie das Un- gluͤck uͤber mich her ſtuͤrmte; wie die Menſchen mich verfolgten; und wie viel ich mit mir ſelbſt und meinen Leidenſchaften zu kaͤmpfen hatte! — Hier ſprach er leiſer, und mit mehr gebrochner Stimme. — Man hat lang zu ſtreiten, bis man ſich von allen Schlacken losreiſt, zumal wenn das Herz den Eindruͤcken der Sinnlichkeit offen, und heftig iſt. Jch glaube, daß man faſt nur in der Einſamkeit dazu gelangen, ſeine Seele reinigen,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/23>, abgerufen am 24.04.2024.