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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sie soll mich noch Gelassenheit und Sanftmuth leh-
ren, oder ich wär ihrer Liebe nicht werth! Schreib
ihr nur nichts davon! Jch müßt mich schämen! --
Da kannst du ihren Brief lesen. Es ist der Wie-
derschein ihrer Seele. Die Zärtlichkeit hat ihr
ihn selbst eingegeben. Siegwart ließ ihn auch
den Brief lesen, den sie ihm geschrieben hatte. --
Es ist herrlich, wie das Mädchen schreibt! sagte
Kronhelm; so natürlich und so wahr! Man sieht
doch gleich, was Natur ist! --

Kronhelm und Siegwart schrieben nun wie-
der an Theresen und an ihren Vater. Kronhelm
ward oft sehr bewegt, und mußte inne halten, so
gegenwärtig stellte er sich das Mädchen vor. Er
konnte es nicht ganz lassen, und schrieb ihr doch
einiges von seiner Ungeduld, in die er über ihr
vermeyntes Schreiben gerathen war. Auf den
Nachmittag schickten sie die Briefe fort.

Den Sonntag darauf besuchten sie den jungen
Grünbach, und erzählten ihm von ihrer Reise.
Seine Schwester Sophie kam, unter dem Vor-
wand, Musikalien zu holen, auch aufs Zimmer,
und blieb über eine Stunde da. Das arme Mäd-
chen hieng mit ihren Augen immer an Siegwart,
und litt recht viel dabey, daß er so wenig auf sie



ſie ſoll mich noch Gelaſſenheit und Sanftmuth leh-
ren, oder ich waͤr ihrer Liebe nicht werth! Schreib
ihr nur nichts davon! Jch muͤßt mich ſchaͤmen! —
Da kannſt du ihren Brief leſen. Es iſt der Wie-
derſchein ihrer Seele. Die Zaͤrtlichkeit hat ihr
ihn ſelbſt eingegeben. Siegwart ließ ihn auch
den Brief leſen, den ſie ihm geſchrieben hatte. —
Es iſt herrlich, wie das Maͤdchen ſchreibt! ſagte
Kronhelm; ſo natuͤrlich und ſo wahr! Man ſieht
doch gleich, was Natur iſt! —

Kronhelm und Siegwart ſchrieben nun wie-
der an Thereſen und an ihren Vater. Kronhelm
ward oft ſehr bewegt, und mußte inne halten, ſo
gegenwaͤrtig ſtellte er ſich das Maͤdchen vor. Er
konnte es nicht ganz laſſen, und ſchrieb ihr doch
einiges von ſeiner Ungeduld, in die er uͤber ihr
vermeyntes Schreiben gerathen war. Auf den
Nachmittag ſchickten ſie die Briefe fort.

Den Sonntag darauf beſuchten ſie den jungen
Gruͤnbach, und erzaͤhlten ihm von ihrer Reiſe.
Seine Schweſter Sophie kam, unter dem Vor-
wand, Muſikalien zu holen, auch aufs Zimmer,
und blieb uͤber eine Stunde da. Das arme Maͤd-
chen hieng mit ihren Augen immer an Siegwart,
und litt recht viel dabey, daß er ſo wenig auf ſie

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[445/0025] ſie ſoll mich noch Gelaſſenheit und Sanftmuth leh- ren, oder ich waͤr ihrer Liebe nicht werth! Schreib ihr nur nichts davon! Jch muͤßt mich ſchaͤmen! — Da kannſt du ihren Brief leſen. Es iſt der Wie- derſchein ihrer Seele. Die Zaͤrtlichkeit hat ihr ihn ſelbſt eingegeben. Siegwart ließ ihn auch den Brief leſen, den ſie ihm geſchrieben hatte. — Es iſt herrlich, wie das Maͤdchen ſchreibt! ſagte Kronhelm; ſo natuͤrlich und ſo wahr! Man ſieht doch gleich, was Natur iſt! — Kronhelm und Siegwart ſchrieben nun wie- der an Thereſen und an ihren Vater. Kronhelm ward oft ſehr bewegt, und mußte inne halten, ſo gegenwaͤrtig ſtellte er ſich das Maͤdchen vor. Er konnte es nicht ganz laſſen, und ſchrieb ihr doch einiges von ſeiner Ungeduld, in die er uͤber ihr vermeyntes Schreiben gerathen war. Auf den Nachmittag ſchickten ſie die Briefe fort. Den Sonntag darauf beſuchten ſie den jungen Gruͤnbach, und erzaͤhlten ihm von ihrer Reiſe. Seine Schweſter Sophie kam, unter dem Vor- wand, Muſikalien zu holen, auch aufs Zimmer, und blieb uͤber eine Stunde da. Das arme Maͤd- chen hieng mit ihren Augen immer an Siegwart, und litt recht viel dabey, daß er ſo wenig auf ſie

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/25>, abgerufen am 28.03.2024.