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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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ihrer Weise sich gütlich zu thun, ohne Zweifel aus
einem unfernen Kirchhof hieher gemacht. Dieß ist
schon durch die Kapelle rechts angedeutet, welche man
unten in einiger Nähe, jedoch nur halb, erblickt, denn
sie wird durch den vordersten Grabhügel abgeschnitten,
an dessen eingesunkenem Kreuze von Stein ein Flö-
tenspieler mit bemerkenswerther Haltung und trefflich
drapirtem Gewande sich hingelagert hat. Ich wende
mich aber jezt wieder auf die entgegengesezte Seite
zu der anziehenden Organistin. Sie ist eine edle Jung-
frau mit gesenktem Haupte; sie scheint mehr auf den
Gesang der zu ihren Füßen strömenden Quelle, als
auf das eigene Spiel zu horchen. Das schwarze, see-
lenvolle Auge taucht nur träumerisch aus der Tiefe
des inneren Geisterlebens, ergreift keinen Gegenstand
mit Aufmerksamkeit, ruht nicht auf den Tasten, nicht
auf der schönen runden Hand, ein wehmüthig Lächeln
schwimmt kaum sichtbar um den Mundwinkel und es
ist, als sinne dieser Geist im jetzigen Augenblicke auf
die Möglichkeit einer Scheidung von seinem zweiten
leiblichen Leben. An der Orgel lehnt ein schlummer-
trunkener Jüngling mit geschlossenen Augen und lei-
denden Zügen, eine brennende Fackel haltend; ein
großer goldenbrauner Nachtfalter sizt ihm in den
Seitenlocken. Zwischen der Wand und dem Kasten
scheint sich der Tod als Kalkant zu befinden, denn
eine knöcherne Hand und ein vorstehender Fuß des
Gerippes wird bemerkt. Unter den Gestalten im

ihrer Weiſe ſich gütlich zu thun, ohne Zweifel aus
einem unfernen Kirchhof hieher gemacht. Dieß iſt
ſchon durch die Kapelle rechts angedeutet, welche man
unten in einiger Nähe, jedoch nur halb, erblickt, denn
ſie wird durch den vorderſten Grabhügel abgeſchnitten,
an deſſen eingeſunkenem Kreuze von Stein ein Flö-
tenſpieler mit bemerkenswerther Haltung und trefflich
drapirtem Gewande ſich hingelagert hat. Ich wende
mich aber jezt wieder auf die entgegengeſezte Seite
zu der anziehenden Organiſtin. Sie iſt eine edle Jung-
frau mit geſenktem Haupte; ſie ſcheint mehr auf den
Geſang der zu ihren Füßen ſtrömenden Quelle, als
auf das eigene Spiel zu horchen. Das ſchwarze, ſee-
lenvolle Auge taucht nur träumeriſch aus der Tiefe
des inneren Geiſterlebens, ergreift keinen Gegenſtand
mit Aufmerkſamkeit, ruht nicht auf den Taſten, nicht
auf der ſchönen runden Hand, ein wehmüthig Lächeln
ſchwimmt kaum ſichtbar um den Mundwinkel und es
iſt, als ſinne dieſer Geiſt im jetzigen Augenblicke auf
die Möglichkeit einer Scheidung von ſeinem zweiten
leiblichen Leben. An der Orgel lehnt ein ſchlummer-
trunkener Jüngling mit geſchloſſenen Augen und lei-
denden Zügen, eine brennende Fackel haltend; ein
großer goldenbrauner Nachtfalter ſizt ihm in den
Seitenlocken. Zwiſchen der Wand und dem Kaſten
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[10/0018] ihrer Weiſe ſich gütlich zu thun, ohne Zweifel aus einem unfernen Kirchhof hieher gemacht. Dieß iſt ſchon durch die Kapelle rechts angedeutet, welche man unten in einiger Nähe, jedoch nur halb, erblickt, denn ſie wird durch den vorderſten Grabhügel abgeſchnitten, an deſſen eingeſunkenem Kreuze von Stein ein Flö- tenſpieler mit bemerkenswerther Haltung und trefflich drapirtem Gewande ſich hingelagert hat. Ich wende mich aber jezt wieder auf die entgegengeſezte Seite zu der anziehenden Organiſtin. Sie iſt eine edle Jung- frau mit geſenktem Haupte; ſie ſcheint mehr auf den Geſang der zu ihren Füßen ſtrömenden Quelle, als auf das eigene Spiel zu horchen. Das ſchwarze, ſee- lenvolle Auge taucht nur träumeriſch aus der Tiefe des inneren Geiſterlebens, ergreift keinen Gegenſtand mit Aufmerkſamkeit, ruht nicht auf den Taſten, nicht auf der ſchönen runden Hand, ein wehmüthig Lächeln ſchwimmt kaum ſichtbar um den Mundwinkel und es iſt, als ſinne dieſer Geiſt im jetzigen Augenblicke auf die Möglichkeit einer Scheidung von ſeinem zweiten leiblichen Leben. An der Orgel lehnt ein ſchlummer- trunkener Jüngling mit geſchloſſenen Augen und lei- denden Zügen, eine brennende Fackel haltend; ein großer goldenbrauner Nachtfalter ſizt ihm in den Seitenlocken. Zwiſchen der Wand und dem Kaſten ſcheint ſich der Tod als Kalkant zu befinden, denn eine knöcherne Hand und ein vorſtehender Fuß des Gerippes wird bemerkt. Unter den Geſtalten im

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/18>, abgerufen am 16.04.2024.