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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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höhe der Kunst, da ich im Begriffe war, an meinen
Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich be-
stehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem
klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Gestalt
zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler
an das väterliche Herz! Lassen Sie mich sie küssen
die gelassene Hand, welche auf ewig die verworrenen
Fäden meines Wesens ordnete -- mein Meister! mein
Erretter!"

So lagen sich beide Männer einige Sekunden lang
fest in den Armen und von diesem Augenblicke an
war eine lebhafte Freundschaft geschlossen, wie sie
wohl in so kurzer Zeit zwischen zwei Menschen, die
sich eigentlich zum ersten Male im Leben begegnen,
selten möglich seyn wird.

"Erlauben Sie, mein Lieber," sagte Tillsen,
"daß ich erst zur Besinnung komme. Noch weiß ich
nicht, bin ich mehr beschämt oder mehr erfreut durch
Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge
noch besser verstehen. So sagen Sie für's Erste nur,
wie verhält sich's denn mit dem diebischen Schufte, dem
wenigstens das Verdienst bleiben muß, uns zusammen
geführt zu haben?"

"Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus
Italien, es ist nun über ein Jahr, traf ich auf der
Reise hieher, wo ich völlig fremd war, einen Hasen-
fuß, Barbier seiner Profession, -- er nannte sich
Wispel, -- der mir seine Dienste als Bedienter an-

höhe der Kunſt, da ich im Begriffe war, an meinen
Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich be-
ſtehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem
klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Geſtalt
zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler
an das väterliche Herz! Laſſen Sie mich ſie küſſen
die gelaſſene Hand, welche auf ewig die verworrenen
Fäden meines Weſens ordnete — mein Meiſter! mein
Erretter!“

So lagen ſich beide Männer einige Sekunden lang
feſt in den Armen und von dieſem Augenblicke an
war eine lebhafte Freundſchaft geſchloſſen, wie ſie
wohl in ſo kurzer Zeit zwiſchen zwei Menſchen, die
ſich eigentlich zum erſten Male im Leben begegnen,
ſelten möglich ſeyn wird.

„Erlauben Sie, mein Lieber,“ ſagte Tillſen,
„daß ich erſt zur Beſinnung komme. Noch weiß ich
nicht, bin ich mehr beſchämt oder mehr erfreut durch
Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge
noch beſſer verſtehen. So ſagen Sie für’s Erſte nur,
wie verhält ſich’s denn mit dem diebiſchen Schufte, dem
wenigſtens das Verdienſt bleiben muß, uns zuſammen
geführt zu haben?“

„Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus
Italien, es iſt nun über ein Jahr, traf ich auf der
Reiſe hieher, wo ich völlig fremd war, einen Haſen-
fuß, Barbier ſeiner Profeſſion, — er nannte ſich
Wiſpel, — der mir ſeine Dienſte als Bedienter an-

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[22/0030] höhe der Kunſt, da ich im Begriffe war, an meinen Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich be- ſtehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Geſtalt zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler an das väterliche Herz! Laſſen Sie mich ſie küſſen die gelaſſene Hand, welche auf ewig die verworrenen Fäden meines Weſens ordnete — mein Meiſter! mein Erretter!“ So lagen ſich beide Männer einige Sekunden lang feſt in den Armen und von dieſem Augenblicke an war eine lebhafte Freundſchaft geſchloſſen, wie ſie wohl in ſo kurzer Zeit zwiſchen zwei Menſchen, die ſich eigentlich zum erſten Male im Leben begegnen, ſelten möglich ſeyn wird. „Erlauben Sie, mein Lieber,“ ſagte Tillſen, „daß ich erſt zur Beſinnung komme. Noch weiß ich nicht, bin ich mehr beſchämt oder mehr erfreut durch Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge noch beſſer verſtehen. So ſagen Sie für’s Erſte nur, wie verhält ſich’s denn mit dem diebiſchen Schufte, dem wenigſtens das Verdienſt bleiben muß, uns zuſammen geführt zu haben?“ „Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus Italien, es iſt nun über ein Jahr, traf ich auf der Reiſe hieher, wo ich völlig fremd war, einen Haſen- fuß, Barbier ſeiner Profeſſion, — er nannte ſich Wiſpel, — der mir ſeine Dienſte als Bedienter an-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/30>, abgerufen am 29.03.2024.