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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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Ueber die Erziehung
in der Kirche wären gesungen worden, welche ein jeder aus
dem Kopfe gewußt hätte. Darauf wäre erst ein kleines Ge-
sangbuch gekommen; dem sey ein etwas dickers gefolgt; bis
es endlich zu seiner Zeit zu einer ganzen Dicke angeschwollen
sey. Was ist aber von allem die Folge gewesen? Unsre Kin-
der haben mindre Lust, Fertigkeit und Dauer zur Handarbeit
erhalten; sie haben geglaubt, wenn sie schreiben, lesen und
auf alle Fragen antworten könnten: so wären sie besser, als
diejenigen wären, die drey Strümpfe im Tage knüt-
teten ......

In der That aber sehe ich doch eigentlich nicht, was das
Schreiben einem Ackermann sonderlich nütze. Wenn er weis,
wie viel Glas Brantewein oder wie viel Krüge Bier durch
einen Strich an der Tafel bedeutet werden; wenn er die große
Erfindung des Kerbstocks, wovon unser Meyer letzthin ge-
schrieben hat, kennet; und wenn er endlich drey Kreuzer zum
Wahrzeichen mahlen kan: so hat er meines Ermessens alles
was er von dieser Seite gebraucht. Mir sind wenigstens
ganze Jahre vorbey gegangen, ohne daß ich einmal Dinte im
Hause gehabt habe. Wenn ich etwas an meinen Procurator
zu schreiben hatte, so sagte ich es dem Cantor; und im übrigen
konnte ich mich mit einem Stückgen Kreite und einem Kerb-
stock behelfen. Das Lesen kömmt mir blos in der Kirche zu
statten, und würde überflüßig seyn, wenn wir das ganze
Jahr hindurch einerley Gesänge hätten. Wozu nützt es also,
daß man unsern Kindern statt des Flegels die Feder in die
Hand giebt, und sie bis ins sechszehnte oder achtzehnte Jahr
mit solchen Tändeleyen, die kein Brodt geben, herumführt?
Ihre Knochen bekommen keine Härte, und ihre Nerven
keine Stärke; und wie manchen versucht nicht eben sein lesen
und schreiben nach Amsterdam oder nach Ostindien zu gehen,
und dort eine Gelegenheit zu suchen, um seinen väterlichen

Acker

Ueber die Erziehung
in der Kirche waͤren geſungen worden, welche ein jeder aus
dem Kopfe gewußt haͤtte. Darauf waͤre erſt ein kleines Ge-
ſangbuch gekommen; dem ſey ein etwas dickers gefolgt; bis
es endlich zu ſeiner Zeit zu einer ganzen Dicke angeſchwollen
ſey. Was iſt aber von allem die Folge geweſen? Unſre Kin-
der haben mindre Luſt, Fertigkeit und Dauer zur Handarbeit
erhalten; ſie haben geglaubt, wenn ſie ſchreiben, leſen und
auf alle Fragen antworten koͤnnten: ſo waͤren ſie beſſer, als
diejenigen waͤren, die drey Struͤmpfe im Tage knuͤt-
teten ......

In der That aber ſehe ich doch eigentlich nicht, was das
Schreiben einem Ackermann ſonderlich nuͤtze. Wenn er weis,
wie viel Glas Brantewein oder wie viel Kruͤge Bier durch
einen Strich an der Tafel bedeutet werden; wenn er die große
Erfindung des Kerbſtocks, wovon unſer Meyer letzthin ge-
ſchrieben hat, kennet; und wenn er endlich drey Kreuzer zum
Wahrzeichen mahlen kan: ſo hat er meines Ermeſſens alles
was er von dieſer Seite gebraucht. Mir ſind wenigſtens
ganze Jahre vorbey gegangen, ohne daß ich einmal Dinte im
Hauſe gehabt habe. Wenn ich etwas an meinen Procurator
zu ſchreiben hatte, ſo ſagte ich es dem Cantor; und im uͤbrigen
konnte ich mich mit einem Stuͤckgen Kreite und einem Kerb-
ſtock behelfen. Das Leſen koͤmmt mir blos in der Kirche zu
ſtatten, und wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn, wenn wir das ganze
Jahr hindurch einerley Geſaͤnge haͤtten. Wozu nuͤtzt es alſo,
daß man unſern Kindern ſtatt des Flegels die Feder in die
Hand giebt, und ſie bis ins ſechszehnte oder achtzehnte Jahr
mit ſolchen Taͤndeleyen, die kein Brodt geben, herumfuͤhrt?
Ihre Knochen bekommen keine Haͤrte, und ihre Nerven
keine Staͤrke; und wie manchen verſucht nicht eben ſein leſen
und ſchreiben nach Amſterdam oder nach Oſtindien zu gehen,
und dort eine Gelegenheit zu ſuchen, um ſeinen vaͤterlichen

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[442/0460] Ueber die Erziehung in der Kirche waͤren geſungen worden, welche ein jeder aus dem Kopfe gewußt haͤtte. Darauf waͤre erſt ein kleines Ge- ſangbuch gekommen; dem ſey ein etwas dickers gefolgt; bis es endlich zu ſeiner Zeit zu einer ganzen Dicke angeſchwollen ſey. Was iſt aber von allem die Folge geweſen? Unſre Kin- der haben mindre Luſt, Fertigkeit und Dauer zur Handarbeit erhalten; ſie haben geglaubt, wenn ſie ſchreiben, leſen und auf alle Fragen antworten koͤnnten: ſo waͤren ſie beſſer, als diejenigen waͤren, die drey Struͤmpfe im Tage knuͤt- teten ...... In der That aber ſehe ich doch eigentlich nicht, was das Schreiben einem Ackermann ſonderlich nuͤtze. Wenn er weis, wie viel Glas Brantewein oder wie viel Kruͤge Bier durch einen Strich an der Tafel bedeutet werden; wenn er die große Erfindung des Kerbſtocks, wovon unſer Meyer letzthin ge- ſchrieben hat, kennet; und wenn er endlich drey Kreuzer zum Wahrzeichen mahlen kan: ſo hat er meines Ermeſſens alles was er von dieſer Seite gebraucht. Mir ſind wenigſtens ganze Jahre vorbey gegangen, ohne daß ich einmal Dinte im Hauſe gehabt habe. Wenn ich etwas an meinen Procurator zu ſchreiben hatte, ſo ſagte ich es dem Cantor; und im uͤbrigen konnte ich mich mit einem Stuͤckgen Kreite und einem Kerb- ſtock behelfen. Das Leſen koͤmmt mir blos in der Kirche zu ſtatten, und wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn, wenn wir das ganze Jahr hindurch einerley Geſaͤnge haͤtten. Wozu nuͤtzt es alſo, daß man unſern Kindern ſtatt des Flegels die Feder in die Hand giebt, und ſie bis ins ſechszehnte oder achtzehnte Jahr mit ſolchen Taͤndeleyen, die kein Brodt geben, herumfuͤhrt? Ihre Knochen bekommen keine Haͤrte, und ihre Nerven keine Staͤrke; und wie manchen verſucht nicht eben ſein leſen und ſchreiben nach Amſterdam oder nach Oſtindien zu gehen, und dort eine Gelegenheit zu ſuchen, um ſeinen vaͤterlichen Acker

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/460>, abgerufen am 19.04.2024.