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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Rücksicht auf ihre etwaige verschiedene Abstammung und auf ihre sonstigen
Organisationen, wo denn Volk lediglich das Subjekt des Staates ist und
nicht abgesondert von demselben betrachtet werden kann.
3) Allerdings weichen die Auffassungen anderer Schriftsteller von der
vorstehenden Aufzählung der verschiedenen Lebenskreise ab. So stellt z. B.
Ahrens in seiner organischen Staatslehre (Wien, 1850) zwei parallele
Entwickelungsreihen auf:
[Spaltenumbruch]
Einzelner
Familie
Gemeinde
Volk
Völkerverein
Menschheitsverein
[Spaltenumbruch]
Religion
Sittlichkeit
Wissenschaft
Erziehung
Kunst
Industrie
Recht
Zur Erreichung der Menschheitszwecke sei denn aber eine Vereinigung beider
Reihen und eine gegenseitige Durchdringung derselben nöthig. -- G. Ricci
dagegen nimmt in seiner Schrift Del Municipio (Livorno, 1847) sieben
"Einheiten" als Entwickelungsstufen an; und zwar die Patrizische Familie;
den Stamm; die Kaste; die Corporationen; die Lehre; den Bezirk; die Ge-
meinde. -- Es ist aber unmöglich, hiermit einverstanden zu sein. Was
Ahrens betrifft, so fallen vor Allem einige offenbare Mißgriffe auf; so
namentlich die Auffassung der Gemeinde als eine Steigerung der Familie,
während sie ein gesellschaftlicher Kreis mit bedeutender staatlicher Einwirkung
ist; ferner die Trennung des Völker- und des Menschheitsvereines, welche
doch offenbar dasselbe sind; endlich die Aufstellung von Erziehung und
Industrie als besondere Lebensaufgaben, obgleich sie nur Mittel, nicht Zwecke
sind. Sodann aber ist die ganze Auffassung in so ferne eine wesentlich
verfehlte, als sie die Gesellschaft ganz ausläßt, und deren verschiedene mög-
liche Mittelpunkte den übrigen Gestaltungen des menschlichen Zusammen-
lebens als Aufgaben zuweist. Die Aufzählung Ricci's dagegen ist theils
unlogisch, weil die von ihm angeführten Zustände ganz verschiedenen Ideen-
reihen angehören; theils unvollständig, weil die erfahrungsgemäß vorhan-
denen Kreise des menschlichen Zusammenlebens durch die von ihm ange-
führten lange nicht erschöpft werden.
§ 2.
2. Der einzelne Mensch und sein Lebenskreis.

Jeder zum Dasein gekommene Mensch hat einen Lebens-
zweck
, und zwar seinen eigenen. Keiner ist blos wegen

Rückſicht auf ihre etwaige verſchiedene Abſtammung und auf ihre ſonſtigen
Organiſationen, wo denn Volk lediglich das Subjekt des Staates iſt und
nicht abgeſondert von demſelben betrachtet werden kann.
3) Allerdings weichen die Auffaſſungen anderer Schriftſteller von der
vorſtehenden Aufzählung der verſchiedenen Lebenskreiſe ab. So ſtellt z. B.
Ahrens in ſeiner organiſchen Staatslehre (Wien, 1850) zwei parallele
Entwickelungsreihen auf:
[Spaltenumbruch]
Einzelner
Familie
Gemeinde
Volk
Völkerverein
Menſchheitsverein
[Spaltenumbruch]
Religion
Sittlichkeit
Wiſſenſchaft
Erziehung
Kunſt
Induſtrie
Recht
Zur Erreichung der Menſchheitszwecke ſei denn aber eine Vereinigung beider
Reihen und eine gegenſeitige Durchdringung derſelben nöthig. — G. Ricci
dagegen nimmt in ſeiner Schrift Del Municipio (Livorno, 1847) ſieben
„Einheiten“ als Entwickelungsſtufen an; und zwar die Patriziſche Familie;
den Stamm; die Kaſte; die Corporationen; die Lehre; den Bezirk; die Ge-
meinde. — Es iſt aber unmöglich, hiermit einverſtanden zu ſein. Was
Ahrens betrifft, ſo fallen vor Allem einige offenbare Mißgriffe auf; ſo
namentlich die Auffaſſung der Gemeinde als eine Steigerung der Familie,
während ſie ein geſellſchaftlicher Kreis mit bedeutender ſtaatlicher Einwirkung
iſt; ferner die Trennung des Völker- und des Menſchheitsvereines, welche
doch offenbar daſſelbe ſind; endlich die Aufſtellung von Erziehung und
Induſtrie als beſondere Lebensaufgaben, obgleich ſie nur Mittel, nicht Zwecke
ſind. Sodann aber iſt die ganze Auffaſſung in ſo ferne eine weſentlich
verfehlte, als ſie die Geſellſchaft ganz ausläßt, und deren verſchiedene mög-
liche Mittelpunkte den übrigen Geſtaltungen des menſchlichen Zuſammen-
lebens als Aufgaben zuweiſt. Die Aufzählung Ricci’s dagegen iſt theils
unlogiſch, weil die von ihm angeführten Zuſtände ganz verſchiedenen Ideen-
reihen angehören; theils unvollſtändig, weil die erfahrungsgemäß vorhan-
denen Kreiſe des menſchlichen Zuſammenlebens durch die von ihm ange-
führten lange nicht erſchöpft werden.
§ 2.
2. Der einzelne Menſch und ſein Lebenskreis.

Jeder zum Daſein gekommene Menſch hat einen Lebens-
zweck
, und zwar ſeinen eigenen. Keiner iſt blos wegen

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[5/0019] ²⁾ Rückſicht auf ihre etwaige verſchiedene Abſtammung und auf ihre ſonſtigen Organiſationen, wo denn Volk lediglich das Subjekt des Staates iſt und nicht abgeſondert von demſelben betrachtet werden kann. ³⁾ Allerdings weichen die Auffaſſungen anderer Schriftſteller von der vorſtehenden Aufzählung der verſchiedenen Lebenskreiſe ab. So ſtellt z. B. Ahrens in ſeiner organiſchen Staatslehre (Wien, 1850) zwei parallele Entwickelungsreihen auf: Einzelner Familie Gemeinde Volk Völkerverein Menſchheitsverein Religion Sittlichkeit Wiſſenſchaft Erziehung Kunſt Induſtrie Recht Zur Erreichung der Menſchheitszwecke ſei denn aber eine Vereinigung beider Reihen und eine gegenſeitige Durchdringung derſelben nöthig. — G. Ricci dagegen nimmt in ſeiner Schrift Del Municipio (Livorno, 1847) ſieben „Einheiten“ als Entwickelungsſtufen an; und zwar die Patriziſche Familie; den Stamm; die Kaſte; die Corporationen; die Lehre; den Bezirk; die Ge- meinde. — Es iſt aber unmöglich, hiermit einverſtanden zu ſein. Was Ahrens betrifft, ſo fallen vor Allem einige offenbare Mißgriffe auf; ſo namentlich die Auffaſſung der Gemeinde als eine Steigerung der Familie, während ſie ein geſellſchaftlicher Kreis mit bedeutender ſtaatlicher Einwirkung iſt; ferner die Trennung des Völker- und des Menſchheitsvereines, welche doch offenbar daſſelbe ſind; endlich die Aufſtellung von Erziehung und Induſtrie als beſondere Lebensaufgaben, obgleich ſie nur Mittel, nicht Zwecke ſind. Sodann aber iſt die ganze Auffaſſung in ſo ferne eine weſentlich verfehlte, als ſie die Geſellſchaft ganz ausläßt, und deren verſchiedene mög- liche Mittelpunkte den übrigen Geſtaltungen des menſchlichen Zuſammen- lebens als Aufgaben zuweiſt. Die Aufzählung Ricci’s dagegen iſt theils unlogiſch, weil die von ihm angeführten Zuſtände ganz verſchiedenen Ideen- reihen angehören; theils unvollſtändig, weil die erfahrungsgemäß vorhan- denen Kreiſe des menſchlichen Zuſammenlebens durch die von ihm ange- führten lange nicht erſchöpft werden. § 2. 2. Der einzelne Menſch und ſein Lebenskreis. Jeder zum Daſein gekommene Menſch hat einen Lebens- zweck, und zwar ſeinen eigenen. Keiner iſt blos wegen

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/19>, abgerufen am 19.04.2024.