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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Bestehenden. Seine Hauptaufgabe ist, die Eigenthümlichkeiten der
ihm bekannten Formen des Staates je nach ihrer Bedeutung
für das allgemeine Wohl zu untersuchen und hieran Rathschläge
zu knüpfen; allein auch er geht von dem Gedanken eines Ge-
sammtlebens aus und bemißt darnach die Rechte und Pflichten
des Einzelnen.

Cicero's Werk ist von weit geringerer Selbstständigkeit
und Bedeutung, und schließt sich vielfach an Aristoteles an.

II. Das Mittelalter.

Die in der christlichen Religion begründete Werthschätzung
des Menschen als solchen und der dem antiken Leben völlig
fremde Sinn einer werkthätigen Bruderliebe gaben dem Zu-
sammenleben eine ganz andere Richtung und Bedeutung, sobald
das Christenthum die allgemeine Lebensauffassung bestimmte.
Schon hierin lag die Nothwendigkeit einer neuen Staatsphilo-
sophie; das Leben der Menschen hatte einen Selbstzweck be-
kommen, und jeder Einzelne hatte für sich und für Andere
eine von Gott selbst gegebene Bestimmung. Hierzu kam aber
noch, daß sich eine ganz neue Ansicht von dem Zusammenleben
im Staate bildete. Die neue christliche Weltanschauung glaubte
an eine höchste Leitung der menschlichen Angelegenheiten durch
die Gottheit selbst. Ein die gesammte Christenheit umfassender
Weltstaat, von welchem die einzelnen Länder nur unterge-
ordnete Theile ausmachten, erschien ihr aber das befohlene Mittel.
Daß sie die Regierung dieses heiligen römischen Reiches der Chri-
stenheit zwischen einem geistlichen und einem weltlichen Haupte
theilte, brachte hierin keine wesentliche Aenderung. Der Zweck,
nämlich die Pflegung eines gottgefälligen christlichen Lebens, war
derselbe auf den beiden Seiten des Gottesreiches, der geistlichen
und der weltlichen, nur mit verschiedenen Formen und Mitteln.

Das Jahrtausend nach Zerstörung des römischen Reiches

v. Mohl, Encyclopädie. 12

Beſtehenden. Seine Hauptaufgabe iſt, die Eigenthümlichkeiten der
ihm bekannten Formen des Staates je nach ihrer Bedeutung
für das allgemeine Wohl zu unterſuchen und hieran Rathſchläge
zu knüpfen; allein auch er geht von dem Gedanken eines Ge-
ſammtlebens aus und bemißt darnach die Rechte und Pflichten
des Einzelnen.

Cicero’s Werk iſt von weit geringerer Selbſtſtändigkeit
und Bedeutung, und ſchließt ſich vielfach an Ariſtoteles an.

II. Das Mittelalter.

Die in der chriſtlichen Religion begründete Werthſchätzung
des Menſchen als ſolchen und der dem antiken Leben völlig
fremde Sinn einer werkthätigen Bruderliebe gaben dem Zu-
ſammenleben eine ganz andere Richtung und Bedeutung, ſobald
das Chriſtenthum die allgemeine Lebensauffaſſung beſtimmte.
Schon hierin lag die Nothwendigkeit einer neuen Staatsphilo-
ſophie; das Leben der Menſchen hatte einen Selbſtzweck be-
kommen, und jeder Einzelne hatte für ſich und für Andere
eine von Gott ſelbſt gegebene Beſtimmung. Hierzu kam aber
noch, daß ſich eine ganz neue Anſicht von dem Zuſammenleben
im Staate bildete. Die neue chriſtliche Weltanſchauung glaubte
an eine höchſte Leitung der menſchlichen Angelegenheiten durch
die Gottheit ſelbſt. Ein die geſammte Chriſtenheit umfaſſender
Weltſtaat, von welchem die einzelnen Länder nur unterge-
ordnete Theile ausmachten, erſchien ihr aber das befohlene Mittel.
Daß ſie die Regierung dieſes heiligen römiſchen Reiches der Chri-
ſtenheit zwiſchen einem geiſtlichen und einem weltlichen Haupte
theilte, brachte hierin keine weſentliche Aenderung. Der Zweck,
nämlich die Pflegung eines gottgefälligen chriſtlichen Lebens, war
derſelbe auf den beiden Seiten des Gottesreiches, der geiſtlichen
und der weltlichen, nur mit verſchiedenen Formen und Mitteln.

Das Jahrtauſend nach Zerſtörung des römiſchen Reiches

v. Mohl, Encyclopädie. 12
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[177/0191] Beſtehenden. Seine Hauptaufgabe iſt, die Eigenthümlichkeiten der ihm bekannten Formen des Staates je nach ihrer Bedeutung für das allgemeine Wohl zu unterſuchen und hieran Rathſchläge zu knüpfen; allein auch er geht von dem Gedanken eines Ge- ſammtlebens aus und bemißt darnach die Rechte und Pflichten des Einzelnen. Cicero’s Werk iſt von weit geringerer Selbſtſtändigkeit und Bedeutung, und ſchließt ſich vielfach an Ariſtoteles an. II. Das Mittelalter. Die in der chriſtlichen Religion begründete Werthſchätzung des Menſchen als ſolchen und der dem antiken Leben völlig fremde Sinn einer werkthätigen Bruderliebe gaben dem Zu- ſammenleben eine ganz andere Richtung und Bedeutung, ſobald das Chriſtenthum die allgemeine Lebensauffaſſung beſtimmte. Schon hierin lag die Nothwendigkeit einer neuen Staatsphilo- ſophie; das Leben der Menſchen hatte einen Selbſtzweck be- kommen, und jeder Einzelne hatte für ſich und für Andere eine von Gott ſelbſt gegebene Beſtimmung. Hierzu kam aber noch, daß ſich eine ganz neue Anſicht von dem Zuſammenleben im Staate bildete. Die neue chriſtliche Weltanſchauung glaubte an eine höchſte Leitung der menſchlichen Angelegenheiten durch die Gottheit ſelbſt. Ein die geſammte Chriſtenheit umfaſſender Weltſtaat, von welchem die einzelnen Länder nur unterge- ordnete Theile ausmachten, erſchien ihr aber das befohlene Mittel. Daß ſie die Regierung dieſes heiligen römiſchen Reiches der Chri- ſtenheit zwiſchen einem geiſtlichen und einem weltlichen Haupte theilte, brachte hierin keine weſentliche Aenderung. Der Zweck, nämlich die Pflegung eines gottgefälligen chriſtlichen Lebens, war derſelbe auf den beiden Seiten des Gottesreiches, der geiſtlichen und der weltlichen, nur mit verſchiedenen Formen und Mitteln. Das Jahrtauſend nach Zerſtörung des römiſchen Reiches v. Mohl, Encyclopädie. 12

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/191>, abgerufen am 19.04.2024.