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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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und selbst halber Welttheile, sowie durch Grenzregelungen ohne alle Theil-
nahme der ursprünglichen Bewohner bethätigt worden, und ist unzweifelhaft
die Quelle schreienden Unrechtes gegen die schwächeren Ureinwohner und der
allmäligen aber sicheren Ausrottung derselben gewesen. Inwieferne durch
solche Gewaltthätigkeiten die Ausdehnung der europäischen Gesittigung und
Race bewerkstelligt, dadurch aber eine große Förderung der Menschheits-
zwecke angebahnt worden ist, mag verschieden beurtheilt werden; eine voll-
ständige Rechtfertigung der Beraubung und des Gewaltmißbrauches ist jedoch
schwerlich damit zu begründen.
§ 71.
b. Die Unabhängigkeit der Staaten.

Nach europäischem Völkerrechte genügt die bloße Thatsache
eines selbstständigen Bestehens nicht, um einem Lande und
seinen Bewohnern die Stellung und das Recht eines unab-
hängigen Staates zu verschaffen. Vielmehr muß ein neuer
Staat von den bisher bereits bestandenen anerkannt sein,
wenn er Anspruch auf Gleichberechtigung, namentlich auf actives
und passives Gesandtschaftsrecht, auf Vertragsrecht und auf
rechtmäßige Kriegführung, machen will. Diese Anerkennung
wird oft lange verzögert von Seiten solcher Staaten, welche
aus Rechts- oder Vortheilsgründen die Entstehung des neuen
Staates nicht gerne sehen, und es ist die Verweigerung zwar
wohl ein Grund zum Abbrechen jedes Verkehres und zur Be-
zeigung des Mißvergnügens durch unfreundliche Maßregeln,
nicht aber zu einem Kriege. Bei empörten Provinzen oder
Kolonieen erfolgt die Anerkennung von Seiten der meisten
Staaten erst dann, wenn die frühere Regierung in die Los-
trennung und selbstständige Gestaltung gewilligt hat. Eine
frühere Anerkennung ist von Seiten der noch Ansprüche
machenden alten Regierung nicht selten als eine Kriegsursache
behandelt worden 1).

Ebenso abweichend von den Grundsätzen des philosophischen
Völkerrechtes sind die Aufstellungen des positiven europäischen

und ſelbſt halber Welttheile, ſowie durch Grenzregelungen ohne alle Theil-
nahme der urſprünglichen Bewohner bethätigt worden, und iſt unzweifelhaft
die Quelle ſchreienden Unrechtes gegen die ſchwächeren Ureinwohner und der
allmäligen aber ſicheren Ausrottung derſelben geweſen. Inwieferne durch
ſolche Gewaltthätigkeiten die Ausdehnung der europäiſchen Geſittigung und
Race bewerkſtelligt, dadurch aber eine große Förderung der Menſchheits-
zwecke angebahnt worden iſt, mag verſchieden beurtheilt werden; eine voll-
ſtändige Rechtfertigung der Beraubung und des Gewaltmißbrauches iſt jedoch
ſchwerlich damit zu begründen.
§ 71.
b. Die Unabhängigkeit der Staaten.

Nach europäiſchem Völkerrechte genügt die bloße Thatſache
eines ſelbſtſtändigen Beſtehens nicht, um einem Lande und
ſeinen Bewohnern die Stellung und das Recht eines unab-
hängigen Staates zu verſchaffen. Vielmehr muß ein neuer
Staat von den bisher bereits beſtandenen anerkannt ſein,
wenn er Anſpruch auf Gleichberechtigung, namentlich auf actives
und paſſives Geſandtſchaftsrecht, auf Vertragsrecht und auf
rechtmäßige Kriegführung, machen will. Dieſe Anerkennung
wird oft lange verzögert von Seiten ſolcher Staaten, welche
aus Rechts- oder Vortheilsgründen die Entſtehung des neuen
Staates nicht gerne ſehen, und es iſt die Verweigerung zwar
wohl ein Grund zum Abbrechen jedes Verkehres und zur Be-
zeigung des Mißvergnügens durch unfreundliche Maßregeln,
nicht aber zu einem Kriege. Bei empörten Provinzen oder
Kolonieen erfolgt die Anerkennung von Seiten der meiſten
Staaten erſt dann, wenn die frühere Regierung in die Los-
trennung und ſelbſtſtändige Geſtaltung gewilligt hat. Eine
frühere Anerkennung iſt von Seiten der noch Anſprüche
machenden alten Regierung nicht ſelten als eine Kriegsurſache
behandelt worden 1).

Ebenſo abweichend von den Grundſätzen des philoſophiſchen
Völkerrechtes ſind die Aufſtellungen des poſitiven europäiſchen

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[474/0488] ³⁾ und ſelbſt halber Welttheile, ſowie durch Grenzregelungen ohne alle Theil- nahme der urſprünglichen Bewohner bethätigt worden, und iſt unzweifelhaft die Quelle ſchreienden Unrechtes gegen die ſchwächeren Ureinwohner und der allmäligen aber ſicheren Ausrottung derſelben geweſen. Inwieferne durch ſolche Gewaltthätigkeiten die Ausdehnung der europäiſchen Geſittigung und Race bewerkſtelligt, dadurch aber eine große Förderung der Menſchheits- zwecke angebahnt worden iſt, mag verſchieden beurtheilt werden; eine voll- ſtändige Rechtfertigung der Beraubung und des Gewaltmißbrauches iſt jedoch ſchwerlich damit zu begründen. § 71. b. Die Unabhängigkeit der Staaten. Nach europäiſchem Völkerrechte genügt die bloße Thatſache eines ſelbſtſtändigen Beſtehens nicht, um einem Lande und ſeinen Bewohnern die Stellung und das Recht eines unab- hängigen Staates zu verſchaffen. Vielmehr muß ein neuer Staat von den bisher bereits beſtandenen anerkannt ſein, wenn er Anſpruch auf Gleichberechtigung, namentlich auf actives und paſſives Geſandtſchaftsrecht, auf Vertragsrecht und auf rechtmäßige Kriegführung, machen will. Dieſe Anerkennung wird oft lange verzögert von Seiten ſolcher Staaten, welche aus Rechts- oder Vortheilsgründen die Entſtehung des neuen Staates nicht gerne ſehen, und es iſt die Verweigerung zwar wohl ein Grund zum Abbrechen jedes Verkehres und zur Be- zeigung des Mißvergnügens durch unfreundliche Maßregeln, nicht aber zu einem Kriege. Bei empörten Provinzen oder Kolonieen erfolgt die Anerkennung von Seiten der meiſten Staaten erſt dann, wenn die frühere Regierung in die Los- trennung und ſelbſtſtändige Geſtaltung gewilligt hat. Eine frühere Anerkennung iſt von Seiten der noch Anſprüche machenden alten Regierung nicht ſelten als eine Kriegsurſache behandelt worden 1). Ebenſo abweichend von den Grundſätzen des philoſophiſchen Völkerrechtes ſind die Aufſtellungen des poſitiven europäiſchen

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/488>, abgerufen am 19.04.2024.