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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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spruche mit der Geschichte und mit dem rechtlichen Charakter des Staates
seiner Stellung und Person eine Heiligkeit und göttliche Unverantwortlichkeit
beilegt. Dies kann nur zu einer Ueberhebung über die Pflichten und zu
einer falschen Stellung zu den Unterthanen führen. Das Bewußtsein einer
besonderen Begünstigung durch die Vorsehung darf nur zur Demuth und
zu der angestrengtesten Pflichterfüllung, nicht aber zu einer Selbstvergötte-
rung und zur Versäumung der Aufgabe führen.
4) Hermetische Abschließung der persönlichen Umgebung eines Fürsten
und Beschränkung des Umganges auf eine bevorrechtete Klasse bringt, neben
der Verarmung des geistigen Lebens, auch die Unmöglichkeit einer richtigen
Kenntniß der Thatsachen und der Menschen. Sie ist daher ebenso sehr
gegen die sittliche Pflicht des Staatsoberhauptes, als sie lächerlich und lang-
weilig ist. -- Starke aber wahre Aeußerungen über die Nichtigkeit und Ver-
derblichkeit eines abgeschlossenen Hoflebens s. bei Fichte, Beiträge z. Be-
richtigung der Urtheile über die französische Revol., Werke, Bd. VI, S.
241; Schleiermacher, Politik, S. 168; Rothe, Ethik, Bd. III,
S. 934.
§ 81.
c. Die sittlichen Pflichten der Bürger gegen den Staat.

Es sind drei wesentlich verschiedene Zustände zu unter-
scheiden:

1. wenn der Staat unzweifelhaft der Lebensansicht des
Volkes entspricht und auch seine Einrichtungen im Wesentlichen
folgerichtig sind;

2. wenn zwar im Ganzen kein Widerspruch zwischen dem
Gedanken des bestehenden Staates und der Gesittigung des
Volkes vorhanden ist, wohl aber im Einzelnen bedeutende Aen-
derungen als nothwendig erscheinen;

3. wenn der Lebenszweck des Volkes und das Wesen
der bestehenden Staatseinrichtungen in entschiedenem Wider-
spruche steht.

Zu 1. Einem vollständig genügenden Staate
hat sich der Bürger ganz anzuschließen. Also soll er denselben
nicht blos nicht verletzen, sondern ihn auch, soweit er als

ſpruche mit der Geſchichte und mit dem rechtlichen Charakter des Staates
ſeiner Stellung und Perſon eine Heiligkeit und göttliche Unverantwortlichkeit
beilegt. Dies kann nur zu einer Ueberhebung über die Pflichten und zu
einer falſchen Stellung zu den Unterthanen führen. Das Bewußtſein einer
beſonderen Begünſtigung durch die Vorſehung darf nur zur Demuth und
zu der angeſtrengteſten Pflichterfüllung, nicht aber zu einer Selbſtvergötte-
rung und zur Verſäumung der Aufgabe führen.
4) Hermetiſche Abſchließung der perſönlichen Umgebung eines Fürſten
und Beſchränkung des Umganges auf eine bevorrechtete Klaſſe bringt, neben
der Verarmung des geiſtigen Lebens, auch die Unmöglichkeit einer richtigen
Kenntniß der Thatſachen und der Menſchen. Sie iſt daher ebenſo ſehr
gegen die ſittliche Pflicht des Staatsoberhauptes, als ſie lächerlich und lang-
weilig iſt. — Starke aber wahre Aeußerungen über die Nichtigkeit und Ver-
derblichkeit eines abgeſchloſſenen Hoflebens ſ. bei Fichte, Beiträge z. Be-
richtigung der Urtheile über die franzöſiſche Revol., Werke, Bd. VI, S.
241; Schleiermacher, Politik, S. 168; Rothe, Ethik, Bd. III,
S. 934.
§ 81.
c. Die ſittlichen Pflichten der Bürger gegen den Staat.

Es ſind drei weſentlich verſchiedene Zuſtände zu unter-
ſcheiden:

1. wenn der Staat unzweifelhaft der Lebensanſicht des
Volkes entſpricht und auch ſeine Einrichtungen im Weſentlichen
folgerichtig ſind;

2. wenn zwar im Ganzen kein Widerſpruch zwiſchen dem
Gedanken des beſtehenden Staates und der Geſittigung des
Volkes vorhanden iſt, wohl aber im Einzelnen bedeutende Aen-
derungen als nothwendig erſcheinen;

3. wenn der Lebenszweck des Volkes und das Weſen
der beſtehenden Staatseinrichtungen in entſchiedenem Wider-
ſpruche ſteht.

Zu 1. Einem vollſtändig genügenden Staate
hat ſich der Bürger ganz anzuſchließen. Alſo ſoll er denſelben
nicht blos nicht verletzen, ſondern ihn auch, ſoweit er als

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[524/0538] ³⁾ ſpruche mit der Geſchichte und mit dem rechtlichen Charakter des Staates ſeiner Stellung und Perſon eine Heiligkeit und göttliche Unverantwortlichkeit beilegt. Dies kann nur zu einer Ueberhebung über die Pflichten und zu einer falſchen Stellung zu den Unterthanen führen. Das Bewußtſein einer beſonderen Begünſtigung durch die Vorſehung darf nur zur Demuth und zu der angeſtrengteſten Pflichterfüllung, nicht aber zu einer Selbſtvergötte- rung und zur Verſäumung der Aufgabe führen. ⁴⁾ Hermetiſche Abſchließung der perſönlichen Umgebung eines Fürſten und Beſchränkung des Umganges auf eine bevorrechtete Klaſſe bringt, neben der Verarmung des geiſtigen Lebens, auch die Unmöglichkeit einer richtigen Kenntniß der Thatſachen und der Menſchen. Sie iſt daher ebenſo ſehr gegen die ſittliche Pflicht des Staatsoberhauptes, als ſie lächerlich und lang- weilig iſt. — Starke aber wahre Aeußerungen über die Nichtigkeit und Ver- derblichkeit eines abgeſchloſſenen Hoflebens ſ. bei Fichte, Beiträge z. Be- richtigung der Urtheile über die franzöſiſche Revol., Werke, Bd. VI, S. 241; Schleiermacher, Politik, S. 168; Rothe, Ethik, Bd. III, S. 934. § 81. c. Die ſittlichen Pflichten der Bürger gegen den Staat. Es ſind drei weſentlich verſchiedene Zuſtände zu unter- ſcheiden: 1. wenn der Staat unzweifelhaft der Lebensanſicht des Volkes entſpricht und auch ſeine Einrichtungen im Weſentlichen folgerichtig ſind; 2. wenn zwar im Ganzen kein Widerſpruch zwiſchen dem Gedanken des beſtehenden Staates und der Geſittigung des Volkes vorhanden iſt, wohl aber im Einzelnen bedeutende Aen- derungen als nothwendig erſcheinen; 3. wenn der Lebenszweck des Volkes und das Weſen der beſtehenden Staatseinrichtungen in entſchiedenem Wider- ſpruche ſteht. Zu 1. Einem vollſtändig genügenden Staate hat ſich der Bürger ganz anzuſchließen. Alſo ſoll er denſelben nicht blos nicht verletzen, ſondern ihn auch, ſoweit er als

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/538>, abgerufen am 29.03.2024.