Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
wenigstens unter Rechtsgelehrten darüber kein Streit sein, daß Vertrag
jeden Falles ein mögliches und erlaubtes Mittel hierzu ist. -- Nicht erst
einer ernstlichen Vertheidigung bedarf es, um von einer verständigen Ver-
tragstheorie die Vorwürfe ferne zu halten, welche ihr wegen des Mißbrauches
mit dem Begriffe der Volkssouveränität gemacht werden. Die Begründung
eines Staates durch Vertrag setzt keineswegs die Annahme einer ursprüng-
lichen Ausübung der Staatsgewalt durch Alle, oder eines Rechtes zu rein
willkührlichen Aenderungen voraus.
4) Es ist eines der Verdienste der Haller'schen Restauration der Staats-
wissenschaften, daß sie die Möglichkeit einer allmäligen Staatsgründung
durch eine Reihenfolge von einzelnen und verschiedenartigen Verträgen schutz-
und hülfebedürftiger Personen oder Corporationen mit Einem Mächtigen
ausführlich begründet hat. Diese Auffassung als eine unwürdige anzugreifen,
ist lächerlich; sie als eine mit Nothwendigkeit zur Unfreiheit führende dar-
zustellen, handgreiflich unrichtig; ihr endlich die Vertheidigung jedes Un-
rechtes schuld zu geben, ganz grundlos. Der Fehler der Haller'schen Ansicht
liegt ganz wo anders; nämlich in ihrer geschichtlich und wissenschaftlich un-
gerechtfertigten Ausschließlichkeit, und in der halb wahnsinnigen Heftigkeit
ihrer Angriffe auf alle Andersdenkende.
5) Nur als eine folgewidrige und äußern Zwecken angepaßte Ab-
schwächung und Verkehrung der göttlichen Stiftung des Staates kann es
betrachtet werden, wenn Stahl einen mittelbaren göttlichen Ursprung
der (fürstlichen) Staatsgewalt auszuführen sucht. Wer den einzelnen Staat
und seine Einrichtungen auf Gottes Gebot stellt, der bedarf keiner philoso-
phischen Begründung und keines Beweises, daß der Staat eine sittlich-recht-
liche Anstalt, als solche aber vernünftig und nothwendig sei. Jenes Gebot
genügt vollkommen. Auch kann er folgerichtig nur zur Theokratie gelangen;
eine Mischung aber von geschichtlichem und rationellem Rechte und von
göttlichem Auftrage ist logisch unmöglich.
6) Nicht also, weil die Gewalt an sich und als solche Recht schafft,
sondern weil sie unter gegebenen Umständen das einzige Mittel zur Erreichung
eines nothwendigen Zweckes ist, wird eine Staatsgründung mittelst ihrer
Anwendung gegen ungerechte Verhinderung als rechtlich unangreifbar aner-
kannt. Jede andere erlaubte Begründung ist wünschenswerther, häuptsächlich
aus Zweckmäßigkeitsrücksichten; allein deßhalb ist doch auch gegen die schließ-
liche Anwendung im wirklichen Nothfalle nichts einzuwenden, man müßte
denn behaupten wollen, daß Willkühr und Unrecht befugt seien, die Erreichung
der Lebenszwecke Dritter zu verhindern, und daß der Mensch nicht berechtigt
sei, unvernünftige Hindernisse wegzuräumen, blos weil sie ihm entgegenstehen.
Das gesunde natürliche Gefühl hat sich niemals darüber täuschen lassen,
daß die Begründung des griechischen Staates gerechtfertigt war, weil unter
wenigſtens unter Rechtsgelehrten darüber kein Streit ſein, daß Vertrag
jeden Falles ein mögliches und erlaubtes Mittel hierzu iſt. — Nicht erſt
einer ernſtlichen Vertheidigung bedarf es, um von einer verſtändigen Ver-
tragstheorie die Vorwürfe ferne zu halten, welche ihr wegen des Mißbrauches
mit dem Begriffe der Volksſouveränität gemacht werden. Die Begründung
eines Staates durch Vertrag ſetzt keineswegs die Annahme einer urſprüng-
lichen Ausübung der Staatsgewalt durch Alle, oder eines Rechtes zu rein
willkührlichen Aenderungen voraus.
4) Es iſt eines der Verdienſte der Haller’ſchen Reſtauration der Staats-
wiſſenſchaften, daß ſie die Möglichkeit einer allmäligen Staatsgründung
durch eine Reihenfolge von einzelnen und verſchiedenartigen Verträgen ſchutz-
und hülfebedürftiger Perſonen oder Corporationen mit Einem Mächtigen
ausführlich begründet hat. Dieſe Auffaſſung als eine unwürdige anzugreifen,
iſt lächerlich; ſie als eine mit Nothwendigkeit zur Unfreiheit führende dar-
zuſtellen, handgreiflich unrichtig; ihr endlich die Vertheidigung jedes Un-
rechtes ſchuld zu geben, ganz grundlos. Der Fehler der Haller’ſchen Anſicht
liegt ganz wo anders; nämlich in ihrer geſchichtlich und wiſſenſchaftlich un-
gerechtfertigten Ausſchließlichkeit, und in der halb wahnſinnigen Heftigkeit
ihrer Angriffe auf alle Andersdenkende.
5) Nur als eine folgewidrige und äußern Zwecken angepaßte Ab-
ſchwächung und Verkehrung der göttlichen Stiftung des Staates kann es
betrachtet werden, wenn Stahl einen mittelbaren göttlichen Urſprung
der (fürſtlichen) Staatsgewalt auszuführen ſucht. Wer den einzelnen Staat
und ſeine Einrichtungen auf Gottes Gebot ſtellt, der bedarf keiner philoſo-
phiſchen Begründung und keines Beweiſes, daß der Staat eine ſittlich-recht-
liche Anſtalt, als ſolche aber vernünftig und nothwendig ſei. Jenes Gebot
genügt vollkommen. Auch kann er folgerichtig nur zur Theokratie gelangen;
eine Miſchung aber von geſchichtlichem und rationellem Rechte und von
göttlichem Auftrage iſt logiſch unmöglich.
6) Nicht alſo, weil die Gewalt an ſich und als ſolche Recht ſchafft,
ſondern weil ſie unter gegebenen Umſtänden das einzige Mittel zur Erreichung
eines nothwendigen Zweckes iſt, wird eine Staatsgründung mittelſt ihrer
Anwendung gegen ungerechte Verhinderung als rechtlich unangreifbar aner-
kannt. Jede andere erlaubte Begründung iſt wünſchenswerther, häuptſächlich
aus Zweckmäßigkeitsrückſichten; allein deßhalb iſt doch auch gegen die ſchließ-
liche Anwendung im wirklichen Nothfalle nichts einzuwenden, man müßte
denn behaupten wollen, daß Willkühr und Unrecht befugt ſeien, die Erreichung
der Lebenszwecke Dritter zu verhindern, und daß der Menſch nicht berechtigt
ſei, unvernünftige Hinderniſſe wegzuräumen, blos weil ſie ihm entgegenſtehen.
Das geſunde natürliche Gefühl hat ſich niemals darüber täuſchen laſſen,
daß die Begründung des griechiſchen Staates gerechtfertigt war, weil unter
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <note place="end" n="3)"><pb facs="#f0110" n="96"/>
wenig&#x017F;tens unter Rechtsgelehrten darüber kein Streit &#x017F;ein, daß Vertrag<lb/>
jeden Falles ein mögliches und erlaubtes Mittel hierzu i&#x017F;t. &#x2014; Nicht er&#x017F;t<lb/>
einer ern&#x017F;tlichen Vertheidigung bedarf es, um von einer ver&#x017F;tändigen Ver-<lb/>
tragstheorie die Vorwürfe ferne zu halten, welche ihr wegen des Mißbrauches<lb/>
mit dem Begriffe der Volks&#x017F;ouveränität gemacht werden. Die Begründung<lb/>
eines Staates durch Vertrag &#x017F;etzt keineswegs die Annahme einer ur&#x017F;prüng-<lb/>
lichen Ausübung der Staatsgewalt durch Alle, oder eines Rechtes zu rein<lb/>
willkührlichen Aenderungen voraus.</note><lb/>
            <note place="end" n="4)">Es i&#x017F;t eines der Verdien&#x017F;te der <hi rendition="#g">Haller</hi>&#x2019;&#x017F;chen Re&#x017F;tauration der Staats-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, daß &#x017F;ie die Möglichkeit einer allmäligen Staatsgründung<lb/>
durch eine Reihenfolge von einzelnen und ver&#x017F;chiedenartigen Verträgen &#x017F;chutz-<lb/>
und hülfebedürftiger Per&#x017F;onen oder Corporationen mit Einem Mächtigen<lb/>
ausführlich begründet hat. Die&#x017F;e Auffa&#x017F;&#x017F;ung als eine unwürdige anzugreifen,<lb/>
i&#x017F;t lächerlich; &#x017F;ie als eine mit Nothwendigkeit zur Unfreiheit führende dar-<lb/>
zu&#x017F;tellen, handgreiflich unrichtig; ihr endlich die Vertheidigung jedes Un-<lb/>
rechtes &#x017F;chuld zu geben, ganz grundlos. Der Fehler der Haller&#x2019;&#x017F;chen An&#x017F;icht<lb/>
liegt ganz wo anders; nämlich in ihrer ge&#x017F;chichtlich und wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich un-<lb/>
gerechtfertigten Aus&#x017F;chließlichkeit, und in der halb wahn&#x017F;innigen Heftigkeit<lb/>
ihrer Angriffe auf alle Andersdenkende.</note><lb/>
            <note place="end" n="5)">Nur als eine folgewidrige und äußern Zwecken angepaßte Ab-<lb/>
&#x017F;chwächung und Verkehrung der göttlichen Stiftung des Staates kann es<lb/>
betrachtet werden, wenn <hi rendition="#g">Stahl</hi> einen <hi rendition="#g">mittelbaren</hi> göttlichen Ur&#x017F;prung<lb/>
der (für&#x017F;tlichen) Staatsgewalt auszuführen &#x017F;ucht. Wer den einzelnen Staat<lb/>
und &#x017F;eine Einrichtungen auf Gottes Gebot &#x017F;tellt, der bedarf keiner philo&#x017F;o-<lb/>
phi&#x017F;chen Begründung und keines Bewei&#x017F;es, daß der Staat eine &#x017F;ittlich-recht-<lb/>
liche An&#x017F;talt, als &#x017F;olche aber vernünftig und nothwendig &#x017F;ei. Jenes Gebot<lb/>
genügt vollkommen. Auch kann er folgerichtig nur zur Theokratie gelangen;<lb/>
eine Mi&#x017F;chung aber von ge&#x017F;chichtlichem und rationellem Rechte und von<lb/>
göttlichem Auftrage i&#x017F;t logi&#x017F;ch unmöglich.</note><lb/>
            <note place="end" n="6)">Nicht al&#x017F;o, weil die Gewalt an &#x017F;ich und als &#x017F;olche Recht &#x017F;chafft,<lb/>
&#x017F;ondern weil &#x017F;ie unter gegebenen Um&#x017F;tänden das einzige Mittel zur Erreichung<lb/>
eines nothwendigen Zweckes i&#x017F;t, wird eine Staatsgründung mittel&#x017F;t ihrer<lb/>
Anwendung gegen ungerechte Verhinderung als rechtlich unangreifbar aner-<lb/>
kannt. Jede andere erlaubte Begründung i&#x017F;t wün&#x017F;chenswerther, häupt&#x017F;ächlich<lb/>
aus Zweckmäßigkeitsrück&#x017F;ichten; allein deßhalb i&#x017F;t doch auch gegen die &#x017F;chließ-<lb/>
liche Anwendung im wirklichen Nothfalle nichts einzuwenden, man müßte<lb/>
denn behaupten wollen, daß Willkühr und Unrecht befugt &#x017F;eien, die Erreichung<lb/>
der Lebenszwecke Dritter zu verhindern, und daß der Men&#x017F;ch nicht berechtigt<lb/>
&#x017F;ei, unvernünftige Hinderni&#x017F;&#x017F;e wegzuräumen, blos weil &#x017F;ie ihm entgegen&#x017F;tehen.<lb/>
Das ge&#x017F;unde natürliche Gefühl hat &#x017F;ich niemals darüber täu&#x017F;chen la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
daß die Begründung des griechi&#x017F;chen Staates gerechtfertigt war, weil unter<lb/></note>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0110] ³⁾ wenigſtens unter Rechtsgelehrten darüber kein Streit ſein, daß Vertrag jeden Falles ein mögliches und erlaubtes Mittel hierzu iſt. — Nicht erſt einer ernſtlichen Vertheidigung bedarf es, um von einer verſtändigen Ver- tragstheorie die Vorwürfe ferne zu halten, welche ihr wegen des Mißbrauches mit dem Begriffe der Volksſouveränität gemacht werden. Die Begründung eines Staates durch Vertrag ſetzt keineswegs die Annahme einer urſprüng- lichen Ausübung der Staatsgewalt durch Alle, oder eines Rechtes zu rein willkührlichen Aenderungen voraus. ⁴⁾ Es iſt eines der Verdienſte der Haller’ſchen Reſtauration der Staats- wiſſenſchaften, daß ſie die Möglichkeit einer allmäligen Staatsgründung durch eine Reihenfolge von einzelnen und verſchiedenartigen Verträgen ſchutz- und hülfebedürftiger Perſonen oder Corporationen mit Einem Mächtigen ausführlich begründet hat. Dieſe Auffaſſung als eine unwürdige anzugreifen, iſt lächerlich; ſie als eine mit Nothwendigkeit zur Unfreiheit führende dar- zuſtellen, handgreiflich unrichtig; ihr endlich die Vertheidigung jedes Un- rechtes ſchuld zu geben, ganz grundlos. Der Fehler der Haller’ſchen Anſicht liegt ganz wo anders; nämlich in ihrer geſchichtlich und wiſſenſchaftlich un- gerechtfertigten Ausſchließlichkeit, und in der halb wahnſinnigen Heftigkeit ihrer Angriffe auf alle Andersdenkende. ⁵⁾ Nur als eine folgewidrige und äußern Zwecken angepaßte Ab- ſchwächung und Verkehrung der göttlichen Stiftung des Staates kann es betrachtet werden, wenn Stahl einen mittelbaren göttlichen Urſprung der (fürſtlichen) Staatsgewalt auszuführen ſucht. Wer den einzelnen Staat und ſeine Einrichtungen auf Gottes Gebot ſtellt, der bedarf keiner philoſo- phiſchen Begründung und keines Beweiſes, daß der Staat eine ſittlich-recht- liche Anſtalt, als ſolche aber vernünftig und nothwendig ſei. Jenes Gebot genügt vollkommen. Auch kann er folgerichtig nur zur Theokratie gelangen; eine Miſchung aber von geſchichtlichem und rationellem Rechte und von göttlichem Auftrage iſt logiſch unmöglich. ⁶⁾ Nicht alſo, weil die Gewalt an ſich und als ſolche Recht ſchafft, ſondern weil ſie unter gegebenen Umſtänden das einzige Mittel zur Erreichung eines nothwendigen Zweckes iſt, wird eine Staatsgründung mittelſt ihrer Anwendung gegen ungerechte Verhinderung als rechtlich unangreifbar aner- kannt. Jede andere erlaubte Begründung iſt wünſchenswerther, häuptſächlich aus Zweckmäßigkeitsrückſichten; allein deßhalb iſt doch auch gegen die ſchließ- liche Anwendung im wirklichen Nothfalle nichts einzuwenden, man müßte denn behaupten wollen, daß Willkühr und Unrecht befugt ſeien, die Erreichung der Lebenszwecke Dritter zu verhindern, und daß der Menſch nicht berechtigt ſei, unvernünftige Hinderniſſe wegzuräumen, blos weil ſie ihm entgegenſtehen. Das geſunde natürliche Gefühl hat ſich niemals darüber täuſchen laſſen, daß die Begründung des griechiſchen Staates gerechtfertigt war, weil unter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/110
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/110>, abgerufen am 24.04.2024.