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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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ganze bisher festgehaltene Auffassung von dem Wesen und den
Zwecken des Staates falsch war, so bedarf die staatliche Wich-
tigkeit der Gesittigung eines Volkes nicht erst eines besonderen
Nachweises. Hängt doch selbst, wenigstens auf die Dauer und
wo keine übermächtige ungerechte Gewalt hindert, die ganze
Verfassung und Einrichtung des Staates von derselben ab.
Außerdem ist Wissen Macht; sittliche gesunde Bildung die
sicherste Grundlage eines gedeihlichen Zustandes der Familie
und der Gesellschaft; endlich die Art und Höhe der religiösen
Bildung entweder eine große Stütze oder ein ebenso bedeuten-
des Hinderniß, zuweilen selbst der Mittelpunkt des staatlichen
Lebens.

1) Nicht blos der populus Romanus begriff sowohl die Plebejer als
die Patrizier in sich; sondern es soll dieß bei jeder Nation der Fall
sein. Jede Beschränkung auf nur einen Theil der Bevölkerung ist ein
Unrecht und ein großer Nachtheil. Eine Verfassung, welche -- wie die
frühere ungarische -- zum populus nur den Adel rechnet, die große Mehr-
zahl aber nur als misera plebs contribuens behandelt, muß nothwendig
die Entwicklung des Landes hemmen und verdient den Untergang. Aber
ebenso kann nur eine verächtliche Beschmeichelung der großen Menge oder
eine bewußte demagogische Wühlerei die höheren Bildungs-, Vermögens- und
Standesverhältnisse als vom Volke geschieden und ihm feindlich entgegen-
gesetzt darstellen. So ungerecht und nachtheilig eine Vernachlässigung der
Rechte und Interessen der Mehrzahl ist, eben so ungerechtfertigt und sündhaft
gegen die wahre Ausbildung und Gesammtheit ist eine Losreißung derselben
von denjenigen Classen, welche das höchste unter gegebenen Umständen
Erreichbare bereits erlangt haben. Diese sind Vorbilder und Führer, nicht
Feinde, und ihre besseren Zustände nicht zu vernichten, sondern allgemein
zu machen.
2) Da die meisten, wenn auch nicht alle, staatlichen Beziehungen der
Bevölkerungszahl in das Gebiet der Politik einschlagen, so ist das Nähere
unten, § 89, zu ersehen.
3) Die Verschiedenheit der Racen des Menschengeschlechtes ist der
Gegenstand höchst zahlreicher Untersuchungen und vielfachen Streites gewesen,
und zwar vom naturwissenschaftlichen, theologischen, sprachlichen, geschichtlichen
und geographischen Standpunkte aus. Aus dieser großen Literatur dürften
namentlich nachstehende Werke für den Gebrauch in den Staatswissenschaften

ganze bisher feſtgehaltene Auffaſſung von dem Weſen und den
Zwecken des Staates falſch war, ſo bedarf die ſtaatliche Wich-
tigkeit der Geſittigung eines Volkes nicht erſt eines beſonderen
Nachweiſes. Hängt doch ſelbſt, wenigſtens auf die Dauer und
wo keine übermächtige ungerechte Gewalt hindert, die ganze
Verfaſſung und Einrichtung des Staates von derſelben ab.
Außerdem iſt Wiſſen Macht; ſittliche geſunde Bildung die
ſicherſte Grundlage eines gedeihlichen Zuſtandes der Familie
und der Geſellſchaft; endlich die Art und Höhe der religiöſen
Bildung entweder eine große Stütze oder ein ebenſo bedeuten-
des Hinderniß, zuweilen ſelbſt der Mittelpunkt des ſtaatlichen
Lebens.

1) Nicht blos der populus Romanus begriff ſowohl die Plebejer als
die Patrizier in ſich; ſondern es ſoll dieß bei jeder Nation der Fall
ſein. Jede Beſchränkung auf nur einen Theil der Bevölkerung iſt ein
Unrecht und ein großer Nachtheil. Eine Verfaſſung, welche — wie die
frühere ungariſche — zum populus nur den Adel rechnet, die große Mehr-
zahl aber nur als misera plebs contribuens behandelt, muß nothwendig
die Entwicklung des Landes hemmen und verdient den Untergang. Aber
ebenſo kann nur eine verächtliche Beſchmeichelung der großen Menge oder
eine bewußte demagogiſche Wühlerei die höheren Bildungs-, Vermögens- und
Standesverhältniſſe als vom Volke geſchieden und ihm feindlich entgegen-
geſetzt darſtellen. So ungerecht und nachtheilig eine Vernachläſſigung der
Rechte und Intereſſen der Mehrzahl iſt, eben ſo ungerechtfertigt und ſündhaft
gegen die wahre Ausbildung und Geſammtheit iſt eine Losreißung derſelben
von denjenigen Claſſen, welche das höchſte unter gegebenen Umſtänden
Erreichbare bereits erlangt haben. Dieſe ſind Vorbilder und Führer, nicht
Feinde, und ihre beſſeren Zuſtände nicht zu vernichten, ſondern allgemein
zu machen.
2) Da die meiſten, wenn auch nicht alle, ſtaatlichen Beziehungen der
Bevölkerungszahl in das Gebiet der Politik einſchlagen, ſo iſt das Nähere
unten, § 89, zu erſehen.
3) Die Verſchiedenheit der Racen des Menſchengeſchlechtes iſt der
Gegenſtand höchſt zahlreicher Unterſuchungen und vielfachen Streites geweſen,
und zwar vom naturwiſſenſchaftlichen, theologiſchen, ſprachlichen, geſchichtlichen
und geographiſchen Standpunkte aus. Aus dieſer großen Literatur dürften
namentlich nachſtehende Werke für den Gebrauch in den Staatswiſſenſchaften
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[123/0137] ganze bisher feſtgehaltene Auffaſſung von dem Weſen und den Zwecken des Staates falſch war, ſo bedarf die ſtaatliche Wich- tigkeit der Geſittigung eines Volkes nicht erſt eines beſonderen Nachweiſes. Hängt doch ſelbſt, wenigſtens auf die Dauer und wo keine übermächtige ungerechte Gewalt hindert, die ganze Verfaſſung und Einrichtung des Staates von derſelben ab. Außerdem iſt Wiſſen Macht; ſittliche geſunde Bildung die ſicherſte Grundlage eines gedeihlichen Zuſtandes der Familie und der Geſellſchaft; endlich die Art und Höhe der religiöſen Bildung entweder eine große Stütze oder ein ebenſo bedeuten- des Hinderniß, zuweilen ſelbſt der Mittelpunkt des ſtaatlichen Lebens. ¹⁾ Nicht blos der populus Romanus begriff ſowohl die Plebejer als die Patrizier in ſich; ſondern es ſoll dieß bei jeder Nation der Fall ſein. Jede Beſchränkung auf nur einen Theil der Bevölkerung iſt ein Unrecht und ein großer Nachtheil. Eine Verfaſſung, welche — wie die frühere ungariſche — zum populus nur den Adel rechnet, die große Mehr- zahl aber nur als misera plebs contribuens behandelt, muß nothwendig die Entwicklung des Landes hemmen und verdient den Untergang. Aber ebenſo kann nur eine verächtliche Beſchmeichelung der großen Menge oder eine bewußte demagogiſche Wühlerei die höheren Bildungs-, Vermögens- und Standesverhältniſſe als vom Volke geſchieden und ihm feindlich entgegen- geſetzt darſtellen. So ungerecht und nachtheilig eine Vernachläſſigung der Rechte und Intereſſen der Mehrzahl iſt, eben ſo ungerechtfertigt und ſündhaft gegen die wahre Ausbildung und Geſammtheit iſt eine Losreißung derſelben von denjenigen Claſſen, welche das höchſte unter gegebenen Umſtänden Erreichbare bereits erlangt haben. Dieſe ſind Vorbilder und Führer, nicht Feinde, und ihre beſſeren Zuſtände nicht zu vernichten, ſondern allgemein zu machen. ²⁾ Da die meiſten, wenn auch nicht alle, ſtaatlichen Beziehungen der Bevölkerungszahl in das Gebiet der Politik einſchlagen, ſo iſt das Nähere unten, § 89, zu erſehen. ³⁾ Die Verſchiedenheit der Racen des Menſchengeſchlechtes iſt der Gegenſtand höchſt zahlreicher Unterſuchungen und vielfachen Streites geweſen, und zwar vom naturwiſſenſchaftlichen, theologiſchen, ſprachlichen, geſchichtlichen und geographiſchen Standpunkte aus. Aus dieſer großen Literatur dürften namentlich nachſtehende Werke für den Gebrauch in den Staatswiſſenſchaften

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/137>, abgerufen am 16.04.2024.