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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Bis itzt sind nur einzelne Gesichtspunkte hervorgehoben, und diese zum
Theil verkehrt genug behandelt. Wenn z. B. Montesqieu allerdings
das Verdienst hat, auf die Bedeutung des Klima für die körperlichen und
geistigen Eigenschaften eines Volkes, und somit für Gesetze und Verfassungen
aufmerksam zu machen: so hat er doch die ganze Wahrheit, fast wie absichtlich,
dadurch verfehlt, daß er nur auf Wärme und Kälte ein Gewicht legt, in
letzterer aber die Quelle aller Mannhaftigkeit und Tugend findet. Und
Ch. Comte (Traite de legislation) hat den Fehler wahrlich dadurch nicht
verbessert, daß er der Hitze die sittlichenden und geistigenden Eigenschaften
beimißt, der Kälte aber Stumpfmachung und Unbeweglichkeit.
2) Ueber die Nachtheile der übermäßigen Ausdehnung eines Reiches
geben höchst belehrenden Aufschluß das römische Reich und Rußland. Jenes
sowohl zur Zeit seiner Blüthe, wo die entlegenen Provinzen unter der
Raubsucht der Statthalter seufzten, als zur Zeit seines Verfalls, wo es sich
so vieler gleichzeitigen und weit von einander anstürmenden Feinde nicht zu
erwehren wußte; dieses durch die Verdorbenheit seiner Beamten und die
Barbarei der entfernt liegenden Theile. -- Wenn die Vereinigten Staaten
von Nordamerika ein ungeheures Gebiet wenigstens jetzt noch mit steigendem
Wohlstande und Gedeihen auszufüllen vermögen, so ist die Möglichkeit hierzu
gegeben durch die förderative Verfassung, welche kräftiges örtliches Leben
verbindet mit einheitlicher Leitung.
3) Daß der Einfluß des Klima nicht der den Volkscharakter allein oder
auch nur hauptsächlich bedingende ist, beweist am besten einerseits die Un-
gleichheit verschiedener Bevölkerungen unter dem Einflusse eines und desselben
Klima, andererseits das Gleichbleiben des Nationalcharakters unter ver-
schiedenen Himmelsstrichen. Man vergleiche die alten Römer mit den
jetzigen; man sehe die Verschiedenheiten der im türkischen Reiche gemischt
unter einander lebenden Stämme: oder auf der andern Seite die Gleich-
förmigkeit der angelsächsischen Bevölkerung in allen Welttheilen; die Fort-
dauer der französischen Eigenthümlichkeiten in Canada und in Louisiana.
Damit ist aber natürlich nicht gesagt, daß die Beschaffenheit von Himmel
und Boden von keinem Einflusse auf die Menschen und also auf die Staaten
sei; nur darf das Verhältniß nicht blos stückweise aufgefaßt und gewürdigt,
und muß Uebertreibung vermieden werden.
4) Von welcher Wichtigkeit der Besitz eines ganzen Stromgebietes bis
zum Meere ist, zeigt z. B. der Missisippi; von welchem Nachtheile dagegen
ein nur zerstückelter Besitz und die Unterbindung des unteren Stromlaufes
durch eine fremde Macht, erhellt andererseits aus den Zuständen des Rhein-
und des Donaugebietes.
v. Mohl, Encyclopädie. 9
Bis itzt ſind nur einzelne Geſichtspunkte hervorgehoben, und dieſe zum
Theil verkehrt genug behandelt. Wenn z. B. Montesqieu allerdings
das Verdienſt hat, auf die Bedeutung des Klima für die körperlichen und
geiſtigen Eigenſchaften eines Volkes, und ſomit für Geſetze und Verfaſſungen
aufmerkſam zu machen: ſo hat er doch die ganze Wahrheit, faſt wie abſichtlich,
dadurch verfehlt, daß er nur auf Wärme und Kälte ein Gewicht legt, in
letzterer aber die Quelle aller Mannhaftigkeit und Tugend findet. Und
Ch. Comte (Traité de legislation) hat den Fehler wahrlich dadurch nicht
verbeſſert, daß er der Hitze die ſittlichenden und geiſtigenden Eigenſchaften
beimißt, der Kälte aber Stumpfmachung und Unbeweglichkeit.
2) Ueber die Nachtheile der übermäßigen Ausdehnung eines Reiches
geben höchſt belehrenden Aufſchluß das römiſche Reich und Rußland. Jenes
ſowohl zur Zeit ſeiner Blüthe, wo die entlegenen Provinzen unter der
Raubſucht der Statthalter ſeufzten, als zur Zeit ſeines Verfalls, wo es ſich
ſo vieler gleichzeitigen und weit von einander anſtürmenden Feinde nicht zu
erwehren wußte; dieſes durch die Verdorbenheit ſeiner Beamten und die
Barbarei der entfernt liegenden Theile. — Wenn die Vereinigten Staaten
von Nordamerika ein ungeheures Gebiet wenigſtens jetzt noch mit ſteigendem
Wohlſtande und Gedeihen auszufüllen vermögen, ſo iſt die Möglichkeit hierzu
gegeben durch die förderative Verfaſſung, welche kräftiges örtliches Leben
verbindet mit einheitlicher Leitung.
3) Daß der Einfluß des Klima nicht der den Volkscharakter allein oder
auch nur hauptſächlich bedingende iſt, beweiſt am beſten einerſeits die Un-
gleichheit verſchiedener Bevölkerungen unter dem Einfluſſe eines und deſſelben
Klima, andererſeits das Gleichbleiben des Nationalcharakters unter ver-
ſchiedenen Himmelsſtrichen. Man vergleiche die alten Römer mit den
jetzigen; man ſehe die Verſchiedenheiten der im türkiſchen Reiche gemiſcht
unter einander lebenden Stämme: oder auf der andern Seite die Gleich-
förmigkeit der angelſächſiſchen Bevölkerung in allen Welttheilen; die Fort-
dauer der franzöſiſchen Eigenthümlichkeiten in Canada und in Louiſiana.
Damit iſt aber natürlich nicht geſagt, daß die Beſchaffenheit von Himmel
und Boden von keinem Einfluſſe auf die Menſchen und alſo auf die Staaten
ſei; nur darf das Verhältniß nicht blos ſtückweiſe aufgefaßt und gewürdigt,
und muß Uebertreibung vermieden werden.
4) Von welcher Wichtigkeit der Beſitz eines ganzen Stromgebietes bis
zum Meere iſt, zeigt z. B. der Miſſiſippi; von welchem Nachtheile dagegen
ein nur zerſtückelter Beſitz und die Unterbindung des unteren Stromlaufes
durch eine fremde Macht, erhellt andererſeits aus den Zuſtänden des Rhein-
und des Donaugebietes.
v. Mohl, Encyclopädie. 9
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[129/0143] ¹⁾ Bis itzt ſind nur einzelne Geſichtspunkte hervorgehoben, und dieſe zum Theil verkehrt genug behandelt. Wenn z. B. Montesqieu allerdings das Verdienſt hat, auf die Bedeutung des Klima für die körperlichen und geiſtigen Eigenſchaften eines Volkes, und ſomit für Geſetze und Verfaſſungen aufmerkſam zu machen: ſo hat er doch die ganze Wahrheit, faſt wie abſichtlich, dadurch verfehlt, daß er nur auf Wärme und Kälte ein Gewicht legt, in letzterer aber die Quelle aller Mannhaftigkeit und Tugend findet. Und Ch. Comte (Traité de legislation) hat den Fehler wahrlich dadurch nicht verbeſſert, daß er der Hitze die ſittlichenden und geiſtigenden Eigenſchaften beimißt, der Kälte aber Stumpfmachung und Unbeweglichkeit. ²⁾ Ueber die Nachtheile der übermäßigen Ausdehnung eines Reiches geben höchſt belehrenden Aufſchluß das römiſche Reich und Rußland. Jenes ſowohl zur Zeit ſeiner Blüthe, wo die entlegenen Provinzen unter der Raubſucht der Statthalter ſeufzten, als zur Zeit ſeines Verfalls, wo es ſich ſo vieler gleichzeitigen und weit von einander anſtürmenden Feinde nicht zu erwehren wußte; dieſes durch die Verdorbenheit ſeiner Beamten und die Barbarei der entfernt liegenden Theile. — Wenn die Vereinigten Staaten von Nordamerika ein ungeheures Gebiet wenigſtens jetzt noch mit ſteigendem Wohlſtande und Gedeihen auszufüllen vermögen, ſo iſt die Möglichkeit hierzu gegeben durch die förderative Verfaſſung, welche kräftiges örtliches Leben verbindet mit einheitlicher Leitung. ³⁾ Daß der Einfluß des Klima nicht der den Volkscharakter allein oder auch nur hauptſächlich bedingende iſt, beweiſt am beſten einerſeits die Un- gleichheit verſchiedener Bevölkerungen unter dem Einfluſſe eines und deſſelben Klima, andererſeits das Gleichbleiben des Nationalcharakters unter ver- ſchiedenen Himmelsſtrichen. Man vergleiche die alten Römer mit den jetzigen; man ſehe die Verſchiedenheiten der im türkiſchen Reiche gemiſcht unter einander lebenden Stämme: oder auf der andern Seite die Gleich- förmigkeit der angelſächſiſchen Bevölkerung in allen Welttheilen; die Fort- dauer der franzöſiſchen Eigenthümlichkeiten in Canada und in Louiſiana. Damit iſt aber natürlich nicht geſagt, daß die Beſchaffenheit von Himmel und Boden von keinem Einfluſſe auf die Menſchen und alſo auf die Staaten ſei; nur darf das Verhältniß nicht blos ſtückweiſe aufgefaßt und gewürdigt, und muß Uebertreibung vermieden werden. ⁴⁾ Von welcher Wichtigkeit der Beſitz eines ganzen Stromgebietes bis zum Meere iſt, zeigt z. B. der Miſſiſippi; von welchem Nachtheile dagegen ein nur zerſtückelter Beſitz und die Unterbindung des unteren Stromlaufes durch eine fremde Macht, erhellt andererſeits aus den Zuſtänden des Rhein- und des Donaugebietes. v. Mohl, Encyclopädie. 9

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/143>, abgerufen am 28.03.2024.