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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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und Freiheit sich immer weiter und immer tiefer verbreitet haben, so
daß sie zum Angelpunkte großer Begebenheiten geworden sind, und es
voraussichtlich noch lange Zeit bleiben werden. Auch soll nicht in Abrede
gestellt sein, daß die systematische Aufzählung und die stylistische Zusam-
mendrängung der Verfassungspunkte in einer Urkunde die Anwendung
im Leben sowohl, als die Auslegung in der Wissenschaft sehr erleichtert,
überdies die Bekanntschaft mit ihnen in weiten Kreisen des Volkes fördert.
Allein bei aller Anerkennung ihrer Bedeutsamkeit müssen doch auch fühlbare
Nachtheile dieser Art von Grundgesetzen zugegeben werden. Da sie nur die
allgemeinsten Sätze enthalten und enthalten sollen, so ist einerseits die Aufstellung
unrichtiger oder unausführbarer Normen wohl möglich, andererseits eine Ver-
änderung der ganzen Grundlage des Staates oder wenigstens einzelner seiner
Haupttheile allzusehr erleichtert. Hierzu kömmt noch, daß die Ausführung der
lakonischen Bestimmungen einer Verfassungsurkunde oft sehr lange auf sich
warten läßt, wodurch denn das üble Beispiel eines nicht befolgten Gesetzes
gegeben ist und große Widersprüche sowie unlösbare Zweifel entstehen.
Endlich ist durch diese Form der Staatsfeststellung die gefährliche Unsitte
aufgekommen, die Gesetze fremder Völker kurzweg nachzuahmen, während sie
weder dem diesseitigen Bedürfnisse entsprechen, noch die Bedingungen zu
ihrer Ausführung vorhanden sind. Mit einem Worte: wenn eine Ver-
fassungsurkunde das scharf und richtig zusammengedrängte Ergebniß eines
ganzen und vollendeten staatlichen Lebensprocesses ist, und wenn sie lange
genug unverändert besteht, um in allen ihren Theilen durch gewöhnliche
Gesetze und deren Uebung ausgeführt werden zu können: dann ist sie ein
naturgemäßer Abschluß, eine richtige Form und eine gute Grundlage. Wenn
sie aber nur der Schaum ist, welchen ein heftiges Wogen der politischen
See aufwirft, so ist sie vorübergehend und bietet keinen Ankergrund, ist
also besten Falles eine leere Täuschung, möglicherweise die Veranlassung zu
Unheil.
4) Ein Hauptgrund der falschen Auffassung von Verfassung und
Verwaltung als bloser Rechtsinstitute ist wohl, daß die Grundfragen
über den Staat in dem philosophischen Staatsrechte, und nicht in einer
allgemeinen Staatslehre behandelt zu werden pflegen, wo denn natürlich der
rechtliche Gesichtspunkt der einzig zulässige ist. Man sehe z. B. die Behandlung
des Gegenstandes in Schmitthenner's Zwölf Büchern vom Staate,
Bd. III, S. 410 fg. -- Im Uebrigen ist diese einseitige Auffassung keines-
wegs der einzige hier vorkommende Fehler. Ebenso tadelnswerth ist die
verhältnißmäßig sehr geringe wissenschaftliche Beschäftigung, welche dem
Verwaltungsgebiete überhaupt zu Theil zu werden pflegt. Diese hat aber
wohl wieder eine doppelte Ursache. Einmal ist allerdings in einer Zeit,
welche einer Neugestaltung des Staatslebens bedürftig ist, die Feststellung
und Freiheit ſich immer weiter und immer tiefer verbreitet haben, ſo
daß ſie zum Angelpunkte großer Begebenheiten geworden ſind, und es
vorausſichtlich noch lange Zeit bleiben werden. Auch ſoll nicht in Abrede
geſtellt ſein, daß die ſyſtematiſche Aufzählung und die ſtyliſtiſche Zuſam-
mendrängung der Verfaſſungspunkte in einer Urkunde die Anwendung
im Leben ſowohl, als die Auslegung in der Wiſſenſchaft ſehr erleichtert,
überdies die Bekanntſchaft mit ihnen in weiten Kreiſen des Volkes fördert.
Allein bei aller Anerkennung ihrer Bedeutſamkeit müſſen doch auch fühlbare
Nachtheile dieſer Art von Grundgeſetzen zugegeben werden. Da ſie nur die
allgemeinſten Sätze enthalten und enthalten ſollen, ſo iſt einerſeits die Aufſtellung
unrichtiger oder unausführbarer Normen wohl möglich, andererſeits eine Ver-
änderung der ganzen Grundlage des Staates oder wenigſtens einzelner ſeiner
Haupttheile allzuſehr erleichtert. Hierzu kömmt noch, daß die Ausführung der
lakoniſchen Beſtimmungen einer Verfaſſungsurkunde oft ſehr lange auf ſich
warten läßt, wodurch denn das üble Beiſpiel eines nicht befolgten Geſetzes
gegeben iſt und große Widerſprüche ſowie unlösbare Zweifel entſtehen.
Endlich iſt durch dieſe Form der Staatsfeſtſtellung die gefährliche Unſitte
aufgekommen, die Geſetze fremder Völker kurzweg nachzuahmen, während ſie
weder dem dieſſeitigen Bedürfniſſe entſprechen, noch die Bedingungen zu
ihrer Ausführung vorhanden ſind. Mit einem Worte: wenn eine Ver-
faſſungsurkunde das ſcharf und richtig zuſammengedrängte Ergebniß eines
ganzen und vollendeten ſtaatlichen Lebensproceſſes iſt, und wenn ſie lange
genug unverändert beſteht, um in allen ihren Theilen durch gewöhnliche
Geſetze und deren Uebung ausgeführt werden zu können: dann iſt ſie ein
naturgemäßer Abſchluß, eine richtige Form und eine gute Grundlage. Wenn
ſie aber nur der Schaum iſt, welchen ein heftiges Wogen der politiſchen
See aufwirft, ſo iſt ſie vorübergehend und bietet keinen Ankergrund, iſt
alſo beſten Falles eine leere Täuſchung, möglicherweiſe die Veranlaſſung zu
Unheil.
4) Ein Hauptgrund der falſchen Auffaſſung von Verfaſſung und
Verwaltung als bloſer Rechtsinſtitute iſt wohl, daß die Grundfragen
über den Staat in dem philoſophiſchen Staatsrechte, und nicht in einer
allgemeinen Staatslehre behandelt zu werden pflegen, wo denn natürlich der
rechtliche Geſichtspunkt der einzig zuläſſige iſt. Man ſehe z. B. die Behandlung
des Gegenſtandes in Schmitthenner’s Zwölf Büchern vom Staate,
Bd. III, S. 410 fg. — Im Uebrigen iſt dieſe einſeitige Auffaſſung keines-
wegs der einzige hier vorkommende Fehler. Ebenſo tadelnswerth iſt die
verhältnißmäßig ſehr geringe wiſſenſchaftliche Beſchäftigung, welche dem
Verwaltungsgebiete überhaupt zu Theil zu werden pflegt. Dieſe hat aber
wohl wieder eine doppelte Urſache. Einmal iſt allerdings in einer Zeit,
welche einer Neugeſtaltung des Staatslebens bedürftig iſt, die Feſtſtellung
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[136/0150] ³⁾ und Freiheit ſich immer weiter und immer tiefer verbreitet haben, ſo daß ſie zum Angelpunkte großer Begebenheiten geworden ſind, und es vorausſichtlich noch lange Zeit bleiben werden. Auch ſoll nicht in Abrede geſtellt ſein, daß die ſyſtematiſche Aufzählung und die ſtyliſtiſche Zuſam- mendrängung der Verfaſſungspunkte in einer Urkunde die Anwendung im Leben ſowohl, als die Auslegung in der Wiſſenſchaft ſehr erleichtert, überdies die Bekanntſchaft mit ihnen in weiten Kreiſen des Volkes fördert. Allein bei aller Anerkennung ihrer Bedeutſamkeit müſſen doch auch fühlbare Nachtheile dieſer Art von Grundgeſetzen zugegeben werden. Da ſie nur die allgemeinſten Sätze enthalten und enthalten ſollen, ſo iſt einerſeits die Aufſtellung unrichtiger oder unausführbarer Normen wohl möglich, andererſeits eine Ver- änderung der ganzen Grundlage des Staates oder wenigſtens einzelner ſeiner Haupttheile allzuſehr erleichtert. Hierzu kömmt noch, daß die Ausführung der lakoniſchen Beſtimmungen einer Verfaſſungsurkunde oft ſehr lange auf ſich warten läßt, wodurch denn das üble Beiſpiel eines nicht befolgten Geſetzes gegeben iſt und große Widerſprüche ſowie unlösbare Zweifel entſtehen. Endlich iſt durch dieſe Form der Staatsfeſtſtellung die gefährliche Unſitte aufgekommen, die Geſetze fremder Völker kurzweg nachzuahmen, während ſie weder dem dieſſeitigen Bedürfniſſe entſprechen, noch die Bedingungen zu ihrer Ausführung vorhanden ſind. Mit einem Worte: wenn eine Ver- faſſungsurkunde das ſcharf und richtig zuſammengedrängte Ergebniß eines ganzen und vollendeten ſtaatlichen Lebensproceſſes iſt, und wenn ſie lange genug unverändert beſteht, um in allen ihren Theilen durch gewöhnliche Geſetze und deren Uebung ausgeführt werden zu können: dann iſt ſie ein naturgemäßer Abſchluß, eine richtige Form und eine gute Grundlage. Wenn ſie aber nur der Schaum iſt, welchen ein heftiges Wogen der politiſchen See aufwirft, ſo iſt ſie vorübergehend und bietet keinen Ankergrund, iſt alſo beſten Falles eine leere Täuſchung, möglicherweiſe die Veranlaſſung zu Unheil. ⁴⁾ Ein Hauptgrund der falſchen Auffaſſung von Verfaſſung und Verwaltung als bloſer Rechtsinſtitute iſt wohl, daß die Grundfragen über den Staat in dem philoſophiſchen Staatsrechte, und nicht in einer allgemeinen Staatslehre behandelt zu werden pflegen, wo denn natürlich der rechtliche Geſichtspunkt der einzig zuläſſige iſt. Man ſehe z. B. die Behandlung des Gegenſtandes in Schmitthenner’s Zwölf Büchern vom Staate, Bd. III, S. 410 fg. — Im Uebrigen iſt dieſe einſeitige Auffaſſung keines- wegs der einzige hier vorkommende Fehler. Ebenſo tadelnswerth iſt die verhältnißmäßig ſehr geringe wiſſenſchaftliche Beſchäftigung, welche dem Verwaltungsgebiete überhaupt zu Theil zu werden pflegt. Dieſe hat aber wohl wieder eine doppelte Urſache. Einmal iſt allerdings in einer Zeit, welche einer Neugeſtaltung des Staatslebens bedürftig iſt, die Feſtſtellung

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/150>, abgerufen am 28.03.2024.